Das Unsichtbare Komitee

Ausgabe: 2011 | 1

Das von Unbekannten im Jahr 2007 im französischen Original publizierte Manifest, das, so ist es der Übersetzung zu entnehmen, als „Handbuch des Terrorismus“ bezeichnet wurde und „die z. T. monatelange Inhaftierung von neun Bewohnern aus dem Dorf Tarnac“ zur Folge hatte, hat auch nach seinem Erscheinen in deutscher Sprache für Aufsehen und widersprüchliche Stellungnahmen gesorgt.

 

In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und in der „Süddeutschen Zeitung“ fanden sich Ende 2010 mehr als nur anerkennende Worte: von „glänzend geschriebener Zeitdiagnose“ (FAS), von einer „Aura der Hellsichtigkeit“ und „heroischer Melancholie“ (SZ) war zu lesen; von „linker Erlösungsfantasy“ mit rechten Elementen“ schrieb hingegen Andreas Fanizadeh in der taz (all das ist, angereichert mit weiteren Kommentaren zu finden auf www.taz.de). Grund genug, selbst einen Blick in den schmalen und – dies sei vorweg genommen – mit Einschränkungen durchaus empfehlenswerten Band zu werfen.

 

Dass die „Gegenwart aussichtslos“ sei, „dass alles nur noch schlimmer werden kann“ und mithin „das Künftige keine Zukunft mehr hat“, darin stimmen wohl nicht nur die Mitglieder des Komitees, sondern nicht wenige Zeitzeugen überein. Und auch die Feststellung, dass „nichts von allem, was sich präsentiert, auch nur im Entferntesten auf der Höhe der Situation befindet“ (beide Zitate S. 5), dürfte wohl kaum einen Sturm der Entrüstung auslösen.

 

Folgerichtig erweist sich die in „sieben Kreisen“ dargebotene Analyse des globalen Kapitalismus und seiner Folgen zwar nicht als durchgehend schlüssig, aber doch in vielen Aspekten überzeugend. „I am what I am“, die „Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens, der Arbeit, des Unglücks“ –, die Sehnsucht nach „tausend kleinen Zufluchtsorten, wo man sich warm hält“ (S. 11f) oder „die ’Depression’ als Ausdruck des Übergangs in Richtung eines politischen Austritts“ (S. 16) seien Indizien für die  ausweglose Lage des Subjekts. Ihm korrespondiere die „Unterhaltung als ein vitales Bedürfnis“, als „exklusiv lautes Auflachen“, als “die passende Antwort auf all die ernsten ‚Fragen’, die die Aktualität aufzuwerfen beliebt“, einhergehend u. a.  mit der Erosion staatlicher und schulischer Autorität (den Grundfesten des französischen Universalismus).

 

Der weitgehende „Zerfall aller sozialen Formen“, so das Komitee, sei indes nicht beklagenswert, sondern „eine einmalige Gelegenheit“ (S. 23), nicht zuletzt auch, weil die zunehmende Prekarisierung der Arbeit  immer weniger erkennen lasse, was denn der Sinn des Daseins sei. „Sich selbst zu produzieren, ist auf dem besten Weg, die herrschende Beschäftigung einer Gesellschaft zu werden, in der die Produktion gegenstandslos geworden ist: wie ein Tischler, den man seiner Werkstatt enteignet hätte und der sich in letzter Verzweiflung daran machen würde, sich selbst abzuhobeln.“ (S. 32).

 

Um gegen diese Entwicklung anzukämpfen, sei es erforderlich, im „Maschenwerk der Metropolen“ – jenen Orten, „die am offensichtlichen unbewohnbar sind, und jedoch als einzige noch auf gewisse Weise bewohnt werden“ – den „bewaffneten Konflikt“ zu suchen. Im „finalen Zusammenstoß von Stadt und Land“, im „Fluß von Wesen und Dingen“ hätte vor allem die „Vervielfältigung der Handys und Internetzugänge der Guerilla ganz neue Mittel geliefert, sich zu organisieren und sich selber schwer angreifbar zu machen.“ (S. 43) Dies sei umso notwendiger, als sich zeige, dass „nicht die Ökonomie in der Krise, sondern die Ökonomie selbst die Krise ist“ (S. 45).

 

„Alternative Konzepte“ würden der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung nicht gerecht, argumentiert das „Komitee“. Zwar hätten sich manche soziale Milieus der „Decroussance“, dem Reiz des Weniger-Konsumierens, verschrieben, doch müsse auch die „Parole der Wachstumsrücknahme“  als ein Teil des „Reformprogramms des Kapitals“ durchschaut werden, das letztlich alles vereinnahmt. „Öko-Dörfer, Überwachungskameras, Spiritualität, Biotechnologie und Geselligkeit gehören zum selben ‚zivilisatorischen Paradigma’, das sich herausbildet: das einer totalen Ökonomie, die von der Basis aus erzeugt wird.“ (S. 52)

 

Dass dieser Logik folgend „die Umwelt als industrielle Herausforderung“ durchschaut und aufs Schärfste kritisiert wird – „Die Ökologie ist nicht nur die Logik der totalen Ökonomie, sie ist auch die neue Moral des Kapitals“ (S. 58) –, ist analytisch konsequent und auf den ersten Blick ebenso überzeugend wie der zuletzt kritisierte „westliche Imperialismus des Relativismus“, der sich darauf berufe, „das nichts wahr“ sei (S. 69f.). (Ob diese Passage allerdings dem Verdacht der „Rechtslastigkeit“ genügend Substanz gibt, darf bezweifelt werden.)

 

Wer der Argumentation des Kollektivs bis zu diesem Punkt zu folgen bereit ist, der mag auch dem Resümee einiges abgewinnen: „Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist. Wir befinden uns schon jetzt in der Untergangsbewegung einer Zivilisation. Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss.“ (S. 75)

 

Wofür aber, wie, und nicht zuletzt mit welcher Aussicht auf Erfolg? Diese Fragen bleiben so gut wie ohne Antwort, und darunter leidet dieses Manifest.

 

Die Aufforderung, sich zu finden („Sich an das zu binden, was man als wahr empfindet“ [S. 76]), zugleich aber Misstrauen gegenüber allen Organisationen und Milieus zur Voraussetzung des kommenden Aufstands zu machen, bleibt ebenso abstrakt wie die Aufforderung, sich in Kommunen zu organisieren, um „aus jeder Krise ein Feuer zu entzünden“ (S. 96). Das klingt vor allem nach Revolutionsromantik.

 

Mag es noch gelingen, eine konsumistisch orientierte Masse dazu zu bewegen, „jede Repräsentationsinstanz [zu] sabotieren“, so ist doch nicht zu erwarten, dass sie bereit ist, sich in Kommunen zusammenzufinden, sich  in Praktiken der Selbstverteidigung zu ertüchtigen, die Methode der Sabotage anzuwenden, um größtmöglichen „Schaden anzurichten und diffus offensiv zu sein“ (S. 98).

 

Zusammengefasst: In der Analyse des Bestehenden weitgehend schlüssig, in den daraus abgeleiteten Konsequenzen aber nicht überzeugend, lässt dieses Pamphlet viele Fragen offen. Die Probleme sind bekannt und trefflich benannt; deren Lösung aber bis auf Weiteres nicht absehbar. W. Sp.

 

Das Unsichtbare Komitee: Der kommende Aufstand. Hamburg: Edition Nautilus, 2010. 4. Aufl., 124 S. € 9,90 [D], 10,20 [A], sFr 17,-

 

ISBN 978-3-894017323