Markus Pühringer

Vom Zauber der Verwandlung

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Vom Zauber der Verwandlung

Markus Pühringer studierte Volkswirtschaft und arbeitet als Referent für Citypastoral sowie im Bereich von Supervision, Coaching und Moderation. Nach seinen Büchern „Im Bann des Geldes“ (2013) und „Herrschaftsfrei leben“ (2018) wendet sich Pühringer in der Publikation „Vom Zauber der Verwandlung“ der Interpretation von Märchen zu. Er bleibt dabei aber dem Thema der notwendigen Veränderungen angesichts der ökologischen und sozialen Verwerfungen treu. Märchen erzählen Geschichten der Verwandlung, sie weisen einen Weg, wie die höchst notwendige, grundlegende Verwandlung unserer Gesellschaft gelingen kann, so Pühringers Grundaussage im Buch. Ein Beispiel: In fast allen Grimm’schen Märchen stirbt die gute Mutter am Beginn oder ist einfach nicht da. Die gute Mutter steht für den Coach dabei nicht für eine konkrete Person, sondern für ein ganzes System, das matriarchal-egalitäre Zeitalter, in dem wir Menschen – jedenfalls in Mitteleuropa – bis vor 2.500 Jahren gelebt haben. Gekommen sei die böse Stiefmutter, die stellvertretend für das patriarchal-hierarchische, kapitalistische Zeitalter steht. Pühringer schaut auf die Tiefenstrukturen dieses Systems. Ein paar Reformen würden nicht reichen, notwendig sei ein grundlegender kultureller Wandel oder – wie er sagt – eine Verwandlung.

Mit dem Postwachstumsökonomen Niko Paech argumentiert Pühringer, dass wir mit technologischen Innovationen allein die Wende nicht schaffen, manche Wege dabei sogar kontraproduktiv sein können. Mit Erich Fromm fordert er den Wechsel vom Modus des Habens zum Modus des Seins, wobei das nicht nur auf das Individuum bezogen ist, sondern auf die Gesellschaft insgesamt. Wichtig dabei sei die Frage, was das Menschsein ausmacht, wie wir wieder in Kontakt zu uns selbst, zu den Mitmenschen und der Natur finden. Pühringer bezieht sich dabei u.a. auf den Neurologen Joachim Bauer, den Soziologen Hartmut Rosa oder den „Ökonomen der Verbundenheit“ Charles Eisenstein. Und fündig wird er – das ist das Neue dieses Buches – eben bei Märchen.

In seinem Buch widmet sich Pühringer den Märchen Froschkönig, Gänsemagd, Schneewittchen und Aschenputtel systemkritisch. Er ist überzeugt, dass wir aus diesen für den anstehenden Wandel lernen könnten. Etwa seien wir wie der Frosch im Brunnen in unseren engen Vorstellungen gefangen und hätten keine Ahnung, wie wir da jemals rauskommen sollten. Wir lebten in einer „Brückenzeit“ (S 158), so Pühringer. Wir spüren, dass es so nicht weitergehen kann, „das neue Land“ (ebd.) sei aber noch nicht in Sicht: „Vermutlich ist es die große Aufgabe unserer Generation diese Brücke vom gewohnten Alten ins ungewohnte Neue zu schaffen.“ (ebd.) Der „Froschkönig“ ist für den Coach daher ein Symbol für den Kairos, also den richtigen Zeitpunkt. Die Verwandlung des Frosches in den Königssohn wird erst möglich, als der Königstochter der goldene Ball in den Brunnen fällt.

Im beinharten Konkurrenzkampf sei „unser Sinn für das Schöne und Lebendige erstarrt“ (S. 160), meint Pühringer weiter und sieht dies symbolisiert im Schneewittchen, das „wie tot in ihrem Glassarg liegt“ (ebd.). Aufgelegt ist die Interpretation des Verhaltens der Stiefmutter, die immerzu fragt, wer die Schönste im Land ist und Schneewittchen beseitigen möchte: „Wie Schneewittchen leben wir in einer brutalen Konkurrenzgesellschaft, wo es – jedenfalls im Wirtschaftsleben – nur darum geht, wer der/die Beste, Effizienteste ist.“ (S. 97). Im Märchen vom „Aschenputtel“ erkennt Pühringer den Verlust von Resonanzerfahrungen. Mit allerlei Tricks betören die Königsschwestern den Königssohn, damit er diese zur Braut nehme. Dieser erkennt aber, dass es Aschenputtel ist, die er wirklich liebt. Pühringer dazu: „Wir gewinnen, in unseren Regionen der Erde, zwar unheimlich viel Wohlstand, so viel, wie es niemals eine Generation zuvor hatte, doch wir verlieren dabei auch sehr viel, nämlich intensive Resonanz-Erfahrungen mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit allen Wesen dieser Erde.“ (S. 129)

Das Gefühl der „absoluten Verlassenheit“ (S. 159) spürten jene am deutlichsten, „die sich wirklich nach einer radikalen Veränderung der Verhältnisse sehnen“ (158) – sowie die Königstochter, die im gleichnamigen Märchen als Gänsemagd von allen verlassen ist und vor der Stadt mit einem kleinen Jungen die Gänse hütet.  Dies führt Pühringer zu einer anderen Parallele. In allen interpretierten Märchen verlassen die Protagonist:innen den Prunk des Königspalastes und müssen sich in ein einfaches Leben begeben. Und sie kämpfen auch nicht gegen die bösen Mächte. Sie richten „ihren Fokus auf das Innenleben und die Anbindung an das große Ganze.“ (S. 164) Aufschlussreich ist auch die wiedergefundene Beziehung zur Natur und den Tieren: die Gänsemagd ruft den Wind, Aschenputtel die Tauben zu Hilfe; Schneewittchen wird von den Tieren des Waldes bewundert.

Der Autor folgert daraus, dass der auf Wachstum und Profitmehrung fixierte Kapitalismus von sich aus an sein Ende kommen werde – mit den Ökonomen Ernst Lohoff und Norbert Trenkle („Die große Entwertung“) geht er davon aus, dass die aktuelle Politik des billigen Geldes nur „Krisenaufschub“ (S. 163) sei. Drei mögliche Reaktionsweisen skizziert Pühringer: „Fight, flight oder freeze“ (S. 154). Kämpfen sei angesichts der Größe der Herausforderung und der herrschenden Verhältnisse mittlerweile aussichtslos. Flüchten nicht mehr möglich, da die Krisen den ganzen Planeten betreffen. Bleibe nur mehr das Tot-Stellen, also das „Kopf in den Sand-Stecken“, das von den meisten Menschen praktiziert werde. Was aber tun? Der Autor findet neue Initiativen wichtig, die zwar nicht der Größe der Krisen entsprechen, die wir in Zukunft aber brauchen werden. Er plädiert jedoch dafür, Aktivismus und Kampf sein zu lassen. Seine Überzeugung: „Das System wird aufgrund innerer Widersprüche bald in eine fundamentale Krise kommen. In der Zwischenzeit muss man jedoch nicht untätig sein. Der Schwerpunkt verlagert sich von der Aktivität zur Innenschau.“ (S. 164)

Darüber ist zu diskutieren. Die These vom Zusammenbruch des Kapitalismus bleibt umstritten. Aus historischer Perspektive sind Veränderungen in der Regel aus einer Wechselwirkung neuer Technologien und neuer kultureller, sozialer und politischer Bewegungen entstanden – teils revolutionär, teils evolutionär. Änderungen in allen Gesellschaftsbereichen und auf allen Ebenen voranzubringen, bietet laut Transformationsforschung die Chance, evolutionären Wandel voranzubringen. Und Aktivität und Innenschau müssen keine Gegensätze sein, sondern können sich durchaus ergänzen. Ob die Zeit dann gereicht haben wird, bleibt freilich offen.

Resümee:  Märchen sind keine wissenschaftlichen Texte und ihre Deutung bietet breite Spielräume. Aber Märchen können uns – wie Geschichten allgemein – helfen, Wirklichkeiten zu deuten und Erkenntnisse zu gewinnen. Das bietet das Buch allemal. Und Pühringers Schlussfolgerungen regen zum Weiterdenken an.