Joscha Wullweber

Zentralbankkapitalismus

Ausgabe: 2022 | 1
Zentralbankkapitalismus

Die globalen Aktienmärkte brachen im Zuge der Covid-19-Pandemie im Frühjahr des Jahres 2020 massiv ein. Doch anders als bei der globalen Finanzkrise in den Jahren 2007-09 erreichten die Aktienkurse ihr Vorkrisenniveau bereits zum Jahresende. Diese außergewöhnliche Entwicklung ist umso überraschender als die Realwirtschaft, der Arbeitsmarkt und die staatlichen Finanzen auch im Herbst 2021 noch deutlich angeschlagen sind. Für Joscha Wullweber, Professor für Politische Ökonomie, ist diese mysteriöse Erholung des Finanzmarktes und seine offenbare Entkopplung von anderen wirtschaftlichen Entwicklungen symptomatisch für eine neue Form des Kapitalismus, den er Zentralbankkapitalismus nennt.

Maßgeblich für die Lenkung der Wirtschaft verantwortlich

In diesem Buch führt Wullweber tief in den Maschinenraum derjenigen Institutionen, die heutzutage maßgeblich für die Lenkung der Wirtschaft verantwortlich sind: die Zentralbanken. Wullweber ist hierbei äußerst kritisch und hinterfragt ganz besonders die Rolle der Regierungen und Staaten, welche die Entwicklung des Finanzsystems hin zu immer größerer Krisenanfälligkeit massiv befördert haben. Die Rolle der Zentralbanken war ursprünglich stark limitiert und technisch. Doch seit der globalen Finanzkrise sind die Zentralbanken mächtiger und unkonventioneller geworden. Dies liegt zum einen daran, dass die meisten Regierungen durch selbst- oder fremdauferlegte Sparmaßnahmen keinen Handlungsspielraum mehr für aktive Fiskalpolitik haben. Zum anderen ist diese Entwicklung der kontinuierlich steigenden Komplexität der Finanzmärkte geschuldet. Das Resultat, der Zentralbankkapitalismus, hat laut Wullweber zwei inhärente Schwachstellen: erstens ist die demokratische Legitimation der Zentralbanken und ihrer geldpolitischen Instrumente sehr zweifelhaft, da sie nicht durch Parlamente kontrolliert werden. Zweitens haben Zentralbanken keine geeigneten Mittel, um die Ursachen von Finanzkrisen zu bekämpfen. Die quantitative Lockerung, also das Bereitstellen immenser Geldmengen durch das Aufkaufen von Wertpapieren führt nicht etwa zu Investitionen, sondern nur zu steigenden Wertpapierpreisen. Daher können die Zentralbanken nur die Symptome von Krisen lindern, diese aber selbst nicht verhindern. Laut Wullweber sind sie in einem Teufelskreis gefangen, da alle stabilisierenden Maßnahmen in einer Krise die Anfälligkeit des Systems nur weiter erhöhen.

Wullwebers Buch ist äußerst komplex und streckenweise selbst für gut informierte Laien wohl kaum verständlich. Dies ist natürlich vor allem dem Thema und der Komplexität der modernen Finanzindustrie geschuldet. Vor allem die sehr detaillierten und theoretischen Ausführungen über die Natur des Geldes sowie über die Definition der Liquidität sind sehr akademisch und mit wissenschaftlichen Zitaten von Karl Marx bis John Maynard Keynes gespickt. Für ein breites Publikum sind wohl eher die späteren Kapitel interessant, welche die verschiedenen krisenfördernden Symptome und die inhärent instabile Natur des Zentralbankkapitalismus beleuchten.

Zu diesen Symptomen gehört das nahezu unregulierte Schattenbankensystem, das inzwischen etwa die Hälfte aller weltweit gehandelten Wertpapiere umfasst und es Akteuren wie Investmentfonds oder Vermögensverwaltern ermöglicht, unabhängig von Banken Kredite zu vergeben. Diese marktbasierten Kredite sind anders als Kredite von Banken staatlich nicht abgesichert und daher in Krisen hoch riskant. Die große Stärke des Buches ist, dass es nicht bei der (kritischen) Beschreibung derartiger Entwicklungen in den Finanzmärkten endet, sondern aufzeigt, dass diese Entwicklung entweder durch die Untätigkeit vor allem westlicher Regierungen oder durch Deregulierung der Finanzmärkte zustande kam. Das Schattenbankensystem etwa ist in Nichtkrisenzeiten für die hochverschuldeten westlichen Staaten von großem Nutzen, da die marktbasierten Kredite in der Regel mit Staatsanleihen abgesichert werden und durch die immer weiter steigende Nachfrage nach Staatsanleihen somit die Zinslast von Staatschulden niedrig halten.

Forderung nach aktiverer Fiskalpolitik

Für Wullweber ist klar, dass nur eine aktivere Fiskalpolitik der Staaten und stärkere Finanzmarktregulierung die inhärente Instabilität des Zentralbankkapitalismus überwinden und künftigen Krisen vorbeugen kann. So fordert er etwa eine Abkehr von fixierten fiskalischen Defizitgrenzen, mehr staatliche Investitionen in die Realwirtschaft, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer sowie eine erzwungene Entschleunigung des Finanzhandels. Auf diese Weise könnte das Finanzsystem zu seiner eigentlichen Funktion – der Bereitstellung von Kredit und Liquidität für die produktive Realwirtschaft – zurückkehren und die unkonventionelle, krisengetriebene Zentralbankpolitik überwunden werden.