Alexander Thiele

Defekte Visionen

Ausgabe: 2024 | 4
Defekte Visionen

Nichts weniger als eine „Intervention in die Zukunft Europas“ hat sich der an der BSP Business & Law School Berlin lehrende Staats- und Europarechtler Alexander Thiele in seinem Buch mit dem gleichnamigen Untertitel und dem Haupttitel „Defekte Visionen“ vorgenommen.

Als defektiven Ausgangspunkt nimmt Thiele die auf den ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, zurückgehende Konzeption der damaligen EGKS als Rechtsgemeinschaft. Durch die rationale Herrschaft des Rechts sollte der von Macht und Leidenschaft beherrschte politische Diskursraum zurückgedrängt und bestimmte, vor allem wirtschaftliche Grundausrichtungen wie etwa die freie Marktwirtschaft außer Streit gestellt werden. Diese vorpolitische Festlegung habe bis heute zu einem „neoliberal Bias“ (Bojan Bugaric) in den Verträgen geführt und mache eine politische Auseinandersetzung über das Wirtschaftsmodell der Union fast unmöglich.

„Die Dicke der Unionsverträge, ihre beachtliche materielle Aufladung ist damit kein Versehen, sondern Ausdruck einer spezifischen Methode, deren Ziel es ist, möglichst viel politischen Streit dauerhaft beizulegen, indem man ihn durch rechtliche Fixierung (vermeintlich) löst und im Übrigen technisch, jedenfalls unpolitisch verarbeitet“ (S. 23). Recht habe jedoch keine derartig einigende Kraft und sei selbst keineswegs unpolitisch. Die Europäische Union sei eine politische Vereinigung, in der es um politische Macht und politische Entscheidungen gehe. „Eine politische Herrschaftsorganisation, in der Politik dementsprechend auch wirksam werden muss“ (S. 24). Dazu zählen für Thiele vor allem mit Wahlausgängen verbundene inhaltliche Richtungsentscheidungen.

Als Belege für seine These analysiert Thiele die Rede, die Joschka Fischer im Jahr 2000 als Außenminister an der Humboldt-Universität gehalten hat, Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede aus dem Jahr 2017, die 95 Thesen zur Rettung Europas von Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer von 2021, die Konferenz zur Zukunft Europas der von der Leyen-Kommission aus dem Jahr 2021 und die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität Prag aus dem Jahr 2022.

 

Grundsatz der legitimen Herrschaft

Für seine eigene Intervention wählt Thiele den Grundsatz der legitimen Herrschaft als akzeptierte Herrschaft, den „Legitimitätsglauben“ (Max Weber), und untersucht die Bedingungen für diese Akzeptanz durch die herrschaftsunterworfenen Bürger:innen anhand von drei Herrschaftsdimensionen, nämlich der Teilhabe an, der Begrenzung von und der Leistungsfähigkeit von Herrschaft. Nach einer Prüfung der Bedeutung dieser drei Merkmale für das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten macht Thiele eine Reihe von sehr konkreten Vorschlägen, wie die Union in diesen drei Dimensionen weiterentwickelt werden kann. So könnten die Verträge materiell entreichert und die in ihnen festgeschriebenen politischen Inhalte – etwa durch die Herabstufung auf Sekundärrecht – wieder einer politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung in Parlament und Rat zugänglich gemacht werden. Auch geht es für Thiele nicht ohne die Begradigung und teilweise Rückführung von Gesetzgebungskompetenzen an die Mitgliedstaaten, etwa durch Priorisierung bestimmter Kompetenzfelder durch Kommissions-Spitzenkandidat:innen unter freiwilligem Verzicht auf die übrigen, einen Stopp der Kompetenzausweitung der Union oder die Abschaffung bzw. Verringerung der Unterstützungskompetenzen zur Schaffung eindeutiger Verantwortlichkeiten. Schließlich müsste auch die Sinnhaftigkeit struktureller Grundsätze in den Verträgen, wie etwa die finalen Zuständigkeitsdefinitionen oder die Kohäsionsverpflichtung in Art. 1 EUV, überdacht werden.

Ein Buch, das für den Diskurs über die Zukunft der EU wichtig ist

Thieles defekte Visionen, darunter drei Politikerreden und die Publikation eines Beratungsunternehmens, sind natürlich für den Diskussionsstand zur Zukunft Europas nicht repräsentativ. Zahlreiche Projekte an der Schnittstelle zwischen Forschung und politischem Aktivismus, wie etwa Kalypso Nicolaidis’ Demoicracy-Konzept, versuchen die von Thiele aufgezeigten Fragen zu adressieren. Unerwähnt bleibt auch, dass die marktwirtschaftliche und kapitalistische Ausrichtung der Römischen Verträge dem Systemkonflikt mit der Sowjetunion geschuldet war und dass heutige internationale Handelsverträge, so genannte „comprehensive trade agreements“, wie etwa CETA oder EPA, die Wirtschaftspolitik der Staaten in ihrem Geltungsbereich genauso verrechtlichen und den politischen Spielraum ohne nennenswerte gesellschaftliche Diskussion einschränken.

Trotzdem ist das Buch für den derzeitigen Diskurs über die Zukunft der Union wichtig und ermutigend, wenn Thiele etwa die Reformpanik mit Hinweis auf die Zustimmungsraten zur Union in den Mitgliedstaaten entschärft und die grundsätzliche Eignung des institutionellen Arrangements belegt.