
Klimapolitisch, ökologisch, sozial und auch sicherheitspolitisch ist die Lage heute fraglos noch brisanter als in den achtziger Jahren (vgl. S. 11). Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, entstand ein öko-emanzipatorisches Transformationsprojekt. Dieses stand und steht für eine kollektive Kontrolle und für die Verteidigung der Gestaltbarkeit zugunsten eines guten Lebens für alle innerhalb der ökologischen Grenzen und des ewigen Frieden in der kosmopolitischen Gesellschaft (vgl. S. 247). Das Projekt fand seinen Ausdruck in einem links-liberalen Milieu, das auch eigene Parteien hervorbrachte, prototypisch dafür stehen die Grünen.
Doch die Widerstände gegen diese Transformation sind stark. Gerade die Vorkämpfer:innen des Vorhabens sehen sich plötzlich mit Vorwürfen konfrontiert, sie seien vor allem selbstgerecht, hätten sich letztlich immer schon mehr um die eigenen Identitäts- und Diversitätsinteressen gekümmert als um die soziale Umverteilung und Gleichheit und seien selbst die soziale Schicht, die von der partizipativen Revolution seit den 70er Jahren am meisten profitiert habe (vgl. S. 14). Ingolfur Blühdorn spricht von der Gleichzeitigkeit der tiefen Krise westlicher Gesellschaften und der Krise des öko-emanzipatorischen Projektes, das diese Gesellschaften transformieren wollte.
Wie konnte es dazu kommen? Das öko-emanzipatorische Projekt zerbreche an seiner eigenen Logik und seinen inneren Widersprüchen. Das sei unvermeidlich, ein eigendynamischer Zwang, so Blühdorn. Worin bestehen diese inneren Widersprüche? Ist es nicht so, dass die links-liberalen Milieus gleichzeitig erster Kritiker der Moderne sein wollen, aber doch als ihr heftigster Verteidiger auftreten? Tritt man nicht für die Natur ein, erhebe aber zugleich einen starken Anspruch, das Geschehen auf der Welt (demokratisch) souverän zu steuern? Tritt man nicht für die Souveränität der Natur und die kulturelle Selbstbestimmung des Menschen ein? Ist man nicht erster Verteidiger der Fakten und gleichzeitig Verfechter der Subjektivität? (vgl. S. 234). Blühdorn listet viele dieser Widersprüche auf, an deren Überwindung viele Denker:innen freilich arbeiten. Er meint, dass diese Lösungen nicht gelungen sind – zumindest in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Blühdorn sagt, man erlebe nicht den Zerfall des Kapitalismus, sondern den Kollaps des Wertesystems der europäisch-westlichen Moderne. Das bedeutet nicht, dass die Demokratie nicht auf dem Rückzug ist. Es bedeutet nicht, dass es die Klimaerwärmung gar nicht gibt. Es bedeutet, dass wir diese Entwicklungen beginnen, mit anderen Wertmaßstäben zu messen. Und anhand dieser Maßstäbe sagen viele: Passt schon. Blühdorn spricht vom traumatischen Zusammenbruch der eigenen Weltgewissheiten, die aber nicht der Untergang der Welt seien, obwohl sie gerne verwechselt würden (vgl. S. 243).
Blühdorn beschreibt rückblickend drei Stufen der Moderne. In der ersten, der fordistischen Industriegesellschaft, erhoben die Menschen den Anspruch auf die Gestaltung der Welt. In den postindustriellen Zeiten reflektierten wir über die (u. a. ökologischen und technischen) Risiken dieses Vorgehens und versuchten, uns diesen Defiziten, negativen Effekten und Risiken zu stellen. Jetzt erlebe man den Übergang in die Phase der Nicht-Nachhaltigkeit. Hier werden die Ideen, wie man mit den Risiken und Krisen unserer Gesellschaft umgehen soll, über Bord geworfen, mehr noch: ihre Krisenhaftigkeit wird in Frage gestellt. Die Erzählung vom Wohlstand für alle in Frieden, Demokratie und in ökologischen Grenzen wird als Fiktion abgetan. Klar weise dies auf eine Brutalisierung sozialer Kämpfe und um Anerkennung hin, so Blühdorn.
Was kommt nun in dieser dritten Stufe der Moderne? Es dominieren Varianten einer Agenda der Schließung, Kontrolle, Ungleichheit, Polarisierung und Exklusion. Was wird prägend sein: alternative Formen der Vernunft, Wettbewerbsfähigkeit, Spontaneität. Man strebt Singularität an, betreibt Selbstverwirklichung/Selbsterfahrung, das „unternehmerische Selbst“ ist Bezugspunkt der Hoffnung. „Die Idee des autonomen Subjekts, also des Subjekts als Souverän, als Träger eines freien Willens und als mündiger, verantwortungsvoller Entscheider erscheint zunehmend als Überforderung und Belastung“ (S. 252). Der Stress, Entscheidungen treffen zu müssen, wird an als geeignet erscheinende Dienstleister:innen übergeben: Populistische Führer:innen, Expert:innenräte, technokratische Eliten und ganz wesentlich: Künstliche Intelligenzen.
Was für viele dramatisch klingt, scheint Blühdorn mit einem Achselzucken hinzunehmen. „Doch der Untergang ihrer Welt bedeutet eben weder die Unbewohnbarkeit des Planeten noch den Untergang der Menschheit. Vielmehr eröffnet er die Perspektive auf eine neue Moderne, eine nächste Gesellschaft, die sich nach dem (Narrativ vom) Untergang der Menschheit entfalten“ (S. 18). Was tun, wenn man Blühdorn zustimmt? Er hat einen hilfreichen Hinweis: Wenn man weiß, was hier geschieht, wenn man die Situation versteht, kann man besser mit kommenden Polarisierungen umgehen (vgl. S. 345).