Das grundlegende Merkmal eines „Ereignisses“ ist das überraschende Auftreten von etwas Neuem, das jegliches stabile Schema unterlaufe. „In einem Ereignis ändern sich die Dinge nicht nur: Was sich ändert, ist eben jener Parameter, an dem wir die Tatsachen der Veränderung messen, d. h. ein Wendepunkt verändert das gesamte Feld, innerhalb dessen Tatsachen erscheinen.“ (S. 177)
Das ist die Antwort, die Slavoj Zizek in seinem neuen Buch auf die Frage gibt: „Was ist ein Ereignis?“ Zizek nähert sich Schritt für Schritt dieser Antwort an, die zugleich eine Definition ist. Er geht davon aus, dass mit Ereignis etwas Schockierendes, aus den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht, etwas, das anscheinend von nirgendwo und ohne erkennbare Gründe kommt, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis gemeint werden soll.
Dieses Verständnis liegt seiner Suche nach „Ereignissen“ zugrunde. Dafür werden etliche Orte angesteuert, an denen gründlich nachgesehen wird. Zizek spricht von einer U-Bahn-Fahrt, die die Leserin und den Leser dorthin bringt.
Der erste Halt ist eine Änderung oder Auflösung des Rahmens, durch den die Realität erscheint, der zweite ein religiöser Sündenfall. Darauf folgen ein Symmetriebruch; die buddhistische Erleuchtung; ein Zusammentreffen mit der Wahrheit, die unser normales Leben erschüttert; die Erfahrung des Selbst als rein ereignishaftes Geschehen; die Immanenz der Illusion in der Wahrheit, die die Wahrheit selbst ereignishaft werden lässt; ein Trauma, das die symbolische Ordnung, in der wir uns befinden, aus dem Gleichgewicht bringt; das Aufkommen eines neuen „Herrensignifikanten“, eines Signifikanten, der das gesamte Feld der Bedeutung strukturiert; die Erfahrung des reinen Fließens von (Un)Sinn; ein radikaler politischer Bruch; und das Ungeschehenmachen eines ereignishaften Ereignisses. (S. 12)
Religion als Ereignis
Wählen wir eine Station aus, um Zizeks Idee zu illustrieren. Zizek, der sich gerne als Kommunist bezeichnet, lobt in dem Buch ausführlich das Ereignishafte der christlichen Religion. Sie sei die „erste und einzige Religion des Ereignisses“ (S. 42). Der einzige Zugang zum Absoluten (Gott) verlaufe über unsere Akzeptanz des einmaligen Ereignisses der Inkarnation als singuläres historisches Geschehen. Christus verkünde mit der “frohen Botschaft” einen radikalen Bruch mit allem, was davor war. „Das ist das Ereignis als Bruch im normalen Verlauf der Dinge, als das Wunder, dass ‘Christus auferstanden ist`.“ (S. 42) Zizek zeigt sich in dem Kapitel nicht nur deswegen beeindruckt vom Christentum. Auch die Geschichte vom Sündenfall im Paradies ist ein Ereignis in seinem Sinn: Denn nur durch das Aufkommen der Sünde wird auch ihre Überwindung möglich. Nur durch die Sünde gibt es Gut und Böse. „Die Unschuld des ´Paradieses´ ist ein anderer Name für ein tierisches Leben, so dass dasjenige, was die Bibel ´Sündenfall´ nennt, nichts anderes ist als der Übergang vom tierischen Leben zur eigentlichen menschlichen Existenz.“ (S. 45).
Überlegungen wie diese reihen sich aneinander und legen natürlich auch die Frage nahe, ob es ein politisches Ereignis geben kann? Etwas, das plötzlich den Lauf der Dinge grundsätzlich ändert. „Im Kapitalismus, wo sich die Dinge ständig ändern, um gleich zu bleiben, würde das wahre Ereignis darin bestehen, das Prinzip der Veränderung selbst zu verändern.“ (S. 177). Zizek kann sich das vorstellen und beschreibt es mit Hilfe Hegelscher Dialektik. „Ein dialektischer Prozess beginnt mit einer bejahenden Idee, auf die er hinstrebt. Im Verlauf des Strebens macht die Idee selbst eine tiefgreifende Veränderung durch (nicht nur eine taktische Anpassung, sondern eine wesentliche Neudefinition), weil die Idee selbst in diesem Prozess überholt wird, (über)determiniert von ihrer Aktualisierung.“ (S. 182). Zizek stellt uns die Idee einer Revolte für Gerechtigkeit vor, die sich radikalisiert, weil die Erfahrung gemacht wird, dass wahre Gerechtigkeit nur mit radikaleren grundlegenden Veränderungen möglich ist. „In solchen Momenten ereignet sich ein Neurahmung der universellen Dimension selbst, die Durchsetzung einer neuen Universalität“ (S. 182)
Zizek, Slavoj: Was ist ein Ereignis? Frankfurt/M.: S. Fischer, 2014. 206 S., € 16,99 [D], 17,50 [A], sFr 18,20 ; ISBN 978-3-10-002224-0