„China Unbound. A New World Disorder“ also. Ich möchte mit der Untertitelwahl der hier anzuzeigenden Publikation beginnen und argumentieren, dass „A New World Disorder“ einen grundlegend zweifachen Hintergrund aufspannt, vor dem der darauffolgende Buchtext gelesen und verstanden werden will.
Zunächst verweist das Adjektiv new auf eine Veränderung. Das Lateinische kennt die „neuen Dinge“ (res novae), die in den modernen europäischen Sprachen mit dem semantischen Feld der „Revolution“ in einem Äquivalenzverhältnis stehen, verstanden als einem grundlegenden und nachhaltigen Wandel bestehender Systemkomplexe. Dabei wird Altes abgelöst und durch Neues ersetzt.
Im Untertitel wird das „Neue“ durch die Substantivgruppe world disorder präzisiert und ausgestaltet. Kontrastiv zur dieser angeführten „Unordnung“, darf man wohl mit hermeneutischer Lizenz die kurrent „regelbasierte internationale Grundordnung“ verortet sehen. Dieser Ausdruck, von Jörg Lau bereits vor zwei Jahren als „Phrase“ entlarvt und entsprechend abqualifiziert, wird dennoch jüngst auch von der deutschen Außenpolitik vor dem Hintergrund des Einfalls Russlands in die Ukraine und der Drohungen der KP Chinas gegen Taiwan wiederholt und verstärkt akzentuiert gebraucht. Problematisch an der Grundannahme einer solchen „Ordnung“, einer euphemistisch auch gerne pax Americana beschrieben Situation, ist ebenfalls mindestens zweierlei: 1. Inwiefern gibt eine solche Ordnung überhaupt? Oder sollte man nicht in politikwissenschaftlich-realistischer Auffassung und mit John Mearsheimer von der Annahme eines anarchischen internationalen Systems ausgehen, einem System ohne „government over governments“? 2. Nun aber angenommen es gibt diese Grundordnung in der Form, inwiefern ist sie seit spätestens 2001 (oder seit den Vietnamkriegen?) wirklich fähig „global stability, prosperity, and civil rights“ (Klappentext) zu sichern? All diese grundlegenden Fragen übergeht die in Vancouver beheimatete Joanna Chiu und macht sich folglich direkt ans Werk.
Chinas globaler Einfluss
Chiu, als Journalistin unter anderem auch für die Deutsche Presse-Agentur tätig, rekurriert in ihren Kapiteln immer wieder auf ältere von ihr verfasste Arbeiten, was mit hoher Lesbarkeit aber verminderter Auffindbarkeit ihrer Quellen einhergeht. Das Buch kommt folglich mit knappen Notes und ohne Bibliografie aus, enthält dafür aber einen erfreulich umfassenden und detaillierten Index.
In neun Kapiteln (exklusive knapper Introduction und Conclusion) ist es Chius zentrales Argument, dass China mittels mitschuldiger demokratischer Staaten Stück für Stück seinen globalen Einfluss ausbaut und dabei zu Maßnahmen toxischer Diplomatie, zu Menschenrechtsverletzungen und illegitimen Einflussnahmen greift. Beispiele hierzu findet sie zunächst in mainland China selbst, ehe sie sich über Hongkong den Mittelstaaten Kanada, Australien, Italien, Griechenland und Türkei zuwendet, um schließlich bei den Schwergewichten USA und Russland ihre Weltreise zu beenden.
Die Stärken und Schwächen des Buches möchte ich anhand eines close reading eines einzelnen Abschnittes aufzeigen und dabei sowohl Chius inhaltlich Agenda als auch ihr methodisches Vorgehen exemplifizieren. Beides lässt sich anhand der Ausführungen zu den komplexen chinesisch-russischen Beziehungen (S. 259, Friend or Foe?) gefasst, paradigmatisch nachvollziehen.
Chiu beginnt in der Gegenwart und top down, mit der Beschreibung eines pompös zelebrierten Staatsbesuchs Wladimir Putins in Peking im Juni 2018 samt Verleihung einer Freundschaftsmedaille. Dieses Treffen nimmt sie zum Anlass, über die gegenwärtige Situation der beiden Staaten zu referieren und dabei grundlegende Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten: Handel (87 Milliarden Dollar gegenseitiges Handelsvolumen, Ablehnung von Protektionismus), Politik (autoritäres System, Amerika als gemeinsamer Hauptgegner), Militär (gemeinsame Kriegssimulationen in Sibirien), dann aber auch verschiedene russische Vorbehalte China gegenüber in den Fokus zu nehmen (dysbalancierte Handelsbilanz, steigender chinesischer Einfluss in Zentralasien). Es folgt ein Abriss über die chinesisch-russischen Beziehungen seit der Novemberrevolution, zunächst unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse der beiden kommunistischen Parteien (die kommunistische Partei Chinas wird 1921 gegründet), anschließend mit Fokus auf die Zeit nach 2001, als Putin mit dem damaligen chinesischen Präsidenten Jiang Zemin den jüngst verlängerten „Russisch-Chinesischen Freundschaftsvertrag“ schließt.
Vor diesem makroskopisch aufgespannten Hintergrund, geht Chiu nun ins Feld und damit zur journalistische Detailarbeit. Mithilfe der in Moskau ansässigen Journalistin Natalia Afanasyeva geht sie Fragen nach, inwiefern die genannten Spannungen vor Ort, beispielsweise in St. Petersburg spürbar sind, inwiefern man dort auf der Straße den rosigen Versprechungen seitens Peking Glaube schenkt und ob diese öffentliche Wahrnehmung die politische Kooperation beeinflusst.
Besonders zur Beantwortung der letzten Frage sind die Ausführungen der an der Georgia State University in Atlanta arbeitenden Maria Repnikova anregend, die auf das Gefälle hinweist, welches durch die Betonung positiver Beziehungen auf offizieller Ebene und der dezidiert kritischen Haltung gegenüber chinesischen Arbeitskräften auf der Straße und in russischen Medien entsteht. Exemplarisch für diese Spannungen berichtet Chiu von Repnikovas Recherchen über die Entwicklungen am Baikalsee, wo es zwischen der lokalen Bevölkerung und den chinesischen Betreibern einer geplanten Trinkwasserfabrik zu Reibungen kam, die paradigmatisch für allgemeine antichinesische Ressentiments innerhalb Russlands stehen sollen.
Ein Buch für den Einstieg in das Thema
Chius Buch ist voll solch kleiner Episode, die zwar anschaulich eine emotionale Tiefe suggerieren, oft jedoch nachprüfbare Validität missen lassen. Ein Buch, dass sich aber besonders aufgrund seiner guten Lesbarkeit und der panoramaartigen Weite hervorragend für Neulinge auf diesem Gebiet eignet.