Helen Thompson

Disorder

Ausgabe: 2023 | 1
Disorder

Der russische Angriff auf die Ukraine und die dadurch ausgelöste Energiekrise haben die geopolitische Bedeutung von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas schlagartig wieder in den Fokus gerückt. Seit den Ölpreiskrisen in den 1970er-Jahren wurde die Verfügbarkeit von fossilen Energien als gegeben wahrgenommen. Dies basierte auf der Annahme, dass die exportierenden Länder viel zu sehr von den finanziellen Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas abhängig seien, als dass sie ihre Lieferungen als strategische Druckmittel verwenden könnten.

Gemeinsame Ursache multipler Krisen

Helen Thompson untersucht in ihrem neuen Buch die Entstehung der Abhängigkeiten von fossiler Energie und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, die Geopolitik und die Stabilität von Demokratien. Damit liefert die Professorin für Politische Ökonomie an der Universität Cambridge eine ebenso spannende wie zeitgemäße Beschreibung der gemeinsamen Ursache der multiplen Krisen, denen wir uns gegenübersehen. Das Buch spannt einen weiten geschichtlichen Bogen vom Beginn der industriellen Nutzung von Erdöl als Energieträger im 19. Jahrhundert bis zur Covid-19-Pandemie. Die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von fossilen Energieträgern dominiert die Weltpolitik und sämtliche Staaten. Denn – egal ob Exporteure oder Importeure – alle sind sie der Verfügbarkeit und den Preisen von Energie unterworfen. Dies zeigt sich etwa an der Suez-Krise 1956, als Großbritannien, Frankreich und Israel eine Invasion Ägyptens versuchten, um die Wiedereröffnung des durch Ägypten blockierten Suez-Kanals für Öllieferungen zu erzwingen. Die Invasion scheiterte auch durch Druck der USA auf die westlichen Länder. Die USA war zu diesem Zeitpunkt zwar noch Ölexporteur, aber die im Zuge der Suez-Krise steigenden Ölpreise führten auch in den USA zu steigender Inflation – und das mitten in einem Wahlkampf. Präsident Eisenhower verhinderte also einen Export von amerikanischem Öl nach Europa sowie eine Refinanzierung der Invasoren durch US-Dollar, um den Konflikt möglichst rasch zu beenden. Der daraus resultierende Rückzug Großbritanniens und Frankreichs wiederum hinterließ ein Machtvakuum im Nahen Osten, das die USA militärisch und politisch auf den Plan rief, um die weltweiten Energiemärkte zu stabilisieren.

Aber nicht nur die Geopolitik wird laut Thompson durch die Verfügbarkeit fossiler Energie bestimmt. Auch die wiederkehrenden Krisen der Weltwirtschaft und die Instabilität der westlichen Demokratien sind nach ihren Erkenntnissen untrennbar mit Erdöl und Erdgas verknüpft. Thompson zeigt, dass diese multiplen Krisen einen gemeinsamen Ursprung in den 1970er-Jahren haben. In diesem Jahrzehnt wurden die USA von einem Exporteur zu einem Importeur von Öl und dadurch gezwungen, den Nachschub aus dem Nahen Osten durch Militärinterventionen zu sichern. Die stärkere Nachfrage der USA nach Öl aus dem Nahen Osten zwang auch viele europäische Staaten wie Österreich und Deutschland zur Erschließung neuer Energiequellen und schuf so die fatale Abhängigkeit von russischem Gas. Die stetig steigenden amerikanischen Ausgaben für Ölimporte führten ebenfalls dazu, dass das bis in die 1970er-Jahre vorherrschende Weltwährungssystem zusammenbrach, die Notwendigkeit nach stärkerer währungspolitischer Koordination in Europa anstieg und schließlich der Euro eingeführt wurde, in dessen Design wiederum die Eurokrise angelegt war. Thompson führt auch den Brexit, die Wahl von Donald Trump und die politische Instabilität Italiens auf die Abhängigkeit von fossiler Energie zurück.

Im Ausblick ihres Buchs geht Thompson auf die Effekte des massiven Ausbaus erneuerbarer Energiequellen auf die Geopolitik ein. Aus ihrer Sicht wird das absehbare Ende des fossilen Zeitalters die zentrale Bedeutung von Energie keineswegs reduzieren. Einerseits werden Öl und Gas noch lange Zeit für einzelne Wirtschaftsbranchen sowie viele Schwellenländer große Bedeutung haben, und andererseits werden der Großteil der Windkraft- und Solarkraftanlagen sowie viele E-Autos in China hergestellt, für deren Produktion seltene Rohstoffe benötigt werden, die in westlichen Länder kaum vorkommen. Aufgrund dieser neuen Abhängigkeiten wird Energie auch weiterhin eine dominierende Rolle in der Weltpolitik spielen.

Guter Einblick in geopolitische Hintergründe der gegenwärtigen Energiekrise

Mit diesem aufschlussreichen Buch gelingt es der Autorin, die multiplen politischen und wirtschaftlichen Krisen unserer Zeit zu beschreiben, ihre weit zurückreichenden Ursachen zu erklären und die Bedeutung unserer Abhängigkeit von fossiler Energie nachzuweisen. Aufgrund dieses ambitionierten Vorhabens ist es nicht verwunderlich, dass Thompson mitunter hochgradig komplexe und technische Zusammenhänge komprimiert. Wer die geopolitischen Hintergründe der gegenwärtigen Energiekrise verstehen will, muss dieses Buch lesen!