Isolde Charim hat auf beeindruckende Art und Weise viele der theoretischen Fäden der Subjektivierung zusammengeführt und das Puzzleteil Narzissmus ergänzt – was folgt ist fast schon ein Big Bang.
Warum willigen wir freiwillig in Verhältnisse ein, die uns allzu oft auch einschnüren, beengen und unfrei fühlen lassen – warum unterwerfen wir uns freiwillig? Diese Frage verliert nie an Aktualität und wurde aus Philosophie und Soziologie in der Vergangenheit oft anhand neoliberaler Regimes erklärt. Theoretiker:innen wie Foucault, den darauf aufbauenden Governmentality Studies, Reckwitz und die Singularisierung sind nur einige dieser Beispiele. Charim wählt einen anderen Zugang und grenzt sich dabei logisch bestechend von den bisherigen Analyseschablonen ab bzw. sie entscheidet sich – um es mit ihren Worten zu sagen – dazu immer nur ein Stück der Weges dieser Theoretiker:innen mitzugehen. Sie erklärt eingehend, warum in diesen Ansätzen Trugschlüsse inhärent verarbeitet sind – sind Reckwitz und Co. tatsächlich einer Ideologie, die sich als Realitätsordnung tarnt, auf den Leim gegangen?
Narzissmus als gesellschaftliches Element
Folgt man Charims Argumentation, dann muss das wohl bejaht werden – allerdings nur eingeschränkt und sehr sympathisch durchgeführt. Wie andere, identifiziert auch sie die Sorge um sich selbst als ethisches Projekt unserer Zeit; mit all den Konsequenzen, die sich neoliberal interpretieren lassen könnten. Allerdings identifiziert sie einen anderen Antrieb dazu, nämlich den sekundären Narzissmus, der seinen Kern in Freuds Theorien hat. Damit führt sie ein genuin psychisches Element ein, nämlich den Bereich des Imaginären – der inneren Selbstverhältnisse – gegenüber dem Bereich des Realen – den äußerlichen Verhältnissen. Wie so oft sind es solche Gegensätze und teils gegenläufigen Dynamiken, die unsere Gesellschaft zugleich stabilisieren und destabilisieren. Allerdings identifiziert sie den Narzissmus hier als gesellschaftliches und eben nicht psychisches Element, welches unsere Welt wie sie heute ist prägt.
Der Narzissmus im Imaginären lässt uns nach dem Ich-Ideal streben – diesem vergessenen Gefühl des primären Narzissmus, im mit der Welt verbundenen ozeanischen Sein als Kleinkind. Dem gegenüber steht das Über-Ich, welches mit seinen gesellschaftlich geprägten Normen von außen subjektivierend wirkt. Demnach ist der Narzissmus das imaginären Gegenprinzip zur Realität des Äußeren.
Charim argumentiert weiter, dass es eine Verlagerung vom Über-Ich (mit seinen Normen und Schuld bei Nichtbefolgen in den realen Verhältnissen - zwingend) hin zum Ich-Ideal (mit flexiblen, selbst aufgestellten Regeln und Minderwertigkeitsgefühlen bei Nichtanpassung –exaltierend) gegeben hat: „Das strenge Über-Ich ist ein Regime, wo sich ein Triumphgefühl nur dann einstellt, wenn man die strikten Vorgaben übertritt, wenn also die strafende Instanz kurz außer Kraft gesetzt wird. Das Ich-Ideal hingegen ist eine Instanz, wo das Triumphgefühl in der – vermeintlichen oder partiellen – Erfüllung der Vorgaben liegt. Und Erfolg ist die Erfahrung, die uns dieses Erfüllen zu bestätigen scheint.“ (S. 126)
Dadurch sollen sich die Paradoxa, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt an sich immer schon charakterisiert haben, allerdings verschärfen. Denn das Über-Ich ist erreichbarer und besser zu valorisieren als diese abstrakte Idee vom eigenen Ideal, welches im sekundären Stadium sowohl individuell wie auch sozial geprägt ist – somit hat die Gesellschaft als äußerliches Verhältnis Eintritt in das gesellschaftliche Gegenprinzip erhalten.
Das Ich-Ideal kann unmöglich erreicht werden
Unsere Subjektivierung wird damit zu einer unendlichen, asymptotischen Annäherung an unser Ich-Ideal, ohne es je erreichen zu können. Diese Dynamik wirkt als hocheffizienter gesellschaftlicher Antriebsstoff, als Benzin für die gesellschaftliche Maschine wie das Wachstum und der Fortschritt haben zeigen können. Zugleich ist sie aber auch das, was Charim die Qualen des Narzissmus nennt. Denn in dem Bemühen, dem Ich-Ideal näherzukommen, liegt immer das Versprechen, das vielleicht eines Tages auch zu schaffen. Das ist jedoch genuin unmöglich.
So sind wir zur Besonderung genötigt und begehren sie selbst, müssen Gruppen und Eigenwerte besser abgrenzen, ihnen Werte zumessen und uns so von anderen abheben. Nicht nur die Diversifizierung und Partikularisierung der Gesellschaft bringt Charim damit in Verbindung, sondern vor allem auch den Kampf um Anerkennung dieser Besonderheit, sei es in Form von Political Correctness, in Form von Sprache, Kleidung oder Geschlecht. Dünnes Eis, mag man hier denken, denn immerhin geht es bei der Diversifizierung von Identitätsangeboten auch um vermeintliche Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Aber auch so kann das gelesen werden, ob das einem bei der Selbstreflexion nun schmeckt oder nicht.
Eine höchst spannende Analyse
Isolde Charim liefert ein Buch, das es schafft, komplexe theoretische Zusammenhänge der letzten 100 Jahre zusammenzuführen und zum Beispiel Konzepte wie das der Subjektivierung so verständlich zu erklären wie es selten zu finden ist. Eine höchst spannende Analyse, die manch anerkannte Idee der Gesellschaft ins Schwanken bringt, dem Subjekt wieder einen eigenen, psychischen Kern gibt und uns somit wieder zu mehr als nur gesellschaftlichen Produkten erhebt. Zugleich ein erschreckender Ausblick: denn stimmt die Analyse, so sind wir mit dem Narzissmus als anti-gesellschaftlichem Gegenprinzip am Ende wirklich in eine Sackgasse gerannt.