Chargaffs Wissenschaftskritik: Kaum Anlass zu Optimismus

Ausgabe: 1995 | 4

Nach fünf Jahrzehnten biochemischer Forschung blickt der längst zum (Natur-)Wissenschaftskritiker mutierte Erwin Chargaff heute als bewußt Außenstehender auf die "Großforschung" und die von ihr profitierenden Wissensproduzenten. Die vorliegende Textesammlung dokumentiert den Weg des renommierten Universitätsprofessors, der nach seiner Emeritierung mit bereits 70 Lebensjahren begann, Essays und Aphorismen zu verfassen. In ihnen wird eine erhellende Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft erstellt, die zusammengenommen wenig Anlaß zu Optimismus gibt.

Ernst, ja beinahe hoffnungslos erscheint diese postmoderne Welt im Spiegel der geschliffenen Formulierungen Chargaffs. In der Tradition des von ihm hochgeschätzten Karl Kraus wird die Verrohung und Verkümmerung der Sprache in einer von den Massenmedien dominierten Gesellschaft ins Visier genommen, um daran den Befund eines allgemeinen kulturellen Niedergangs festzumachen: "Es denkt sich schlecht in dieser geistlosen Welt" - ein allzeit präsentes Motto der vorliegenden Texte, die ihren Bannstrahl gegen die Kulturlosigkeit mit großer Gelehrsamkeit und zahlreichen Referenzen an geschätzte Denker von Juvenal bis Friedrich Dürrenmatt - zu illustrieren wissen. Nicht immer vermag die mit großer rhetorischer Geste vorgetragene pessimistische Geschichtsphilosophie des geistvollen Polemikers indes gleichermaßen zu überzeugen: Die Zunahme der Weltbevölkerung als "Zusammenstoß zwischen Instinkt und Zivilisation"? - wie so vieles von Chargaff apodiktisch Formuliertes eine anfechtbare Sentenz.

In seiner Kritik des naturwissenschaftlichen Gigantismus aber, der Absage an eine verwissenschaftlichte Welt, in der Phantasie und Kreativität verdrängt werden, liegt der Unzeitgemäße wohl schon beinahe im Trend der Zeit. Mit dem Angriff auf eine Wissenschaft, die sich längst gegen die Natur gewandt habe und für ihre fortschreitende Zerstörung Verantwortung trage, werden vielerorts offene Türen eingerannt. Für die Chargaffschen Therapievorschläge freilich, die nicht nur einen Ombudsmann für die Natur einfordern, sondern auch die finanzielle und personelle Eindämmung eines überdimensionalen Forschungsbetriebs vorsehen, dürfte dies schon weniger zutreffen. Das Selbstzeugnis des großen Pessimisten wäre nicht vollständig, wenn er die Ökologiedebatte nicht mit jenem fatalistischen Bild konterkarierte, das am definitiven Ende der menschlichen Naturvergessenheit stehen könnte: die Natur, die nach dem endgültigen Scheitern des Menschen endlich wieder erleichtert aufatmen kann.

G.S.

Chargaff, Erwin: Ein zweites Leben. Autobiographische und andere Texte. Stuttgart: Klett-Cotta, 1995. 2805., DM / sFr 38,-/ ÖS296