Ausgehend von der Beobachtung, daß unsere Lebensweise in den Industrieländern zu Lasten der Mitwelt, der Dritten Welt und der Nachwelt geht, stellt Meyer-Abich die grundlegende Frage "Wie weit das Leben in der wissenschaftlich-technischen Welt, welche die unsere ist, bereits in der herrschenden Wissenschaft verfehlt wird und wie es besser gemacht werden könnte" (S. 9). Eine schwerwiegende Feststellung! Haben wir nicht eben dieser Welt so viele Erleichterungen des täglichen Lebens, Reichtum, Wohlstand, Einfluß und Macht zu verdanken? Hat uns nicht eine objektiv-empirisch vorgehende Wissenschaft durch Experiment und Methode und durch striktes Zurückweisen unbewiesener Behauptungen von Doktrinen und Ideologien befreit? Soll jetzt der ganze Fortschritt annulliert werden auf das Versprechen einer angeblich besseren Welt hin? Will man die in Jahrhunderten gewachsenen und von ”Zahllosen Menschen getragenen Wissenschaften neu erfinden? Wie soll diese neue Wissenschaft aussehen? Ist das nicht einfach eine Anmaßung einiger ewiger Besserwisser? Eine vorschnelle Anwendung solcher Vorverurteilung läßt schon allein die Person des Herausgebers nicht zu.
Meyer-Abich weiß, wovon er spricht. Es sind das Übermaß an Zerstörungswissen und der Mangel an Erhaltungswissen, welche die Grenzen der herrschenden Wissenschaft aufzeigen. Daher fordert er einen neuen Umgang mit ihr. Paradoxerweise sollen oder wollen wir mit Wissenschaft und Technik Probleme lösen, die wir ohne sie nicht hätten. Die Orthodoxie behauptet, alles müsse so bleiben, wie es ist. Dem hält Meyer-Abich entgegen: "So wie bisher darf es nicht weitergehen." (S. 12) Es geht Meyer-Abich und den Coautoren nicht darum, eine alternative Wissenschaft zu entwickeln, sondern darum, aufzuzeigen, daß die Wissenschaft in ihrem Kernbereich, ihrem Herzblut, der Fragestellung, gar nicht so wissenschaftlich ist, wie sie sich gibt. Ihre Hintergrundinteressen und Leitbilder, auf deren Basis sie betrieben wird, stellen keineswegs die unverrückbaren Fundamente dar, die sie vorgeben zu sein. Es geht um nichts anderes als die Angemessenheit der wissenschaftlichen Fragen und die Folgen der Anwendung ihrer Erkenntnisse. Oft zählt nur, ob sie kurz- oder mittelfristig Nutzen für bestimmte Interessen bringen, die oft genug die der Geldgeber sind. Bleibt aber die heutige Wissenschaft in ihren Fesseln hängen, alles kontrollieren zu wollen, wie es auch die Tendenz im gegenwärtig vorherrschenden Konstruktivismus ist dann bleibt die gesamte Mitwelt auf der Strecke. Die drohenden Gefahren eines Weitermachens wie bisher führt notgedrungen zu Dammbrüchen, wie Kernenergie, Eingriffe in die genetische Struktur und Mikroelektronik zeigen. Der Begriff Umwelt sollte zugunsten des nicht durch Ausbeutbarkeit belasteten Wortes Mitwelt ersetzt und in einen umfassenden Ganzheitsbegriff integriert werden, indem das Ganze nicht nur mehr als die Summe seiner Teile ist sondern auch die "Teile" die Ganzheit widerspiegeln. Die heute vorherrschende Anthropozentrik müßte im Sinne dieses holistischen Mitweltgedankens aufgegeben werden. Für Meyer-Abich gehört dazu die außermenschliche Natur als Ganzes ebenso wie der Umgang mit dem Nichtwissen und die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Natur.
Das Grundanliegen aller Autoren des Bandes, die sich aus ihrer jeweiligen fachlichen Sicht und ihrer Person mit den von Meyer-Abich vorgelegten Prämissen befassen und auseinandersetzen, ist nicht die Erfindung neuer Wissenschaften, sondern ein Umbruch in ihren ethischen Dimensionen bezüglich der Voraussetzungen und Anwendungen von Wissenschaft. Ob Wirtschaft, Sozialwissenschaft, Biologie, Physik oder Religion, Mythologie und Psychotherapie, alle Autoren versuchen, den Ansatz einer holistisch gesehenen Mitwelt aufzugreifen. Dies gelingt notgedrungen meist nur partiell. Ein Durcharbeiten vor allem der naturphilosophischen und historischen Begründungen ist streckenweise strapaziös. Probleme in den Fachwissenschaften bleiben oftangeschnitten. Eine der aufgestellten Grundforderungen ist die Information und Beteiligung der Öffentlichkeit an den Wissenschaften und den sie begleitenden Entscheidungsprozessen. Ein noch wesentlich stringenterer Umgang mit Sprache im Sinne von Klarheit und Verständlichkeit wäre ein wichtiger Beitrag dafür, daß das Anliegen der Autoren in weiten Kreisen verstanden wird. Dennoch - ein wichtiges Buch.
H.W.
Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken in Wissenschaft und Wirtschaft. Hrsg. v. Klaus M. Meyer-Abich ...München: Beck, 1997.470 S. DM 84,- / sFr 76,50/ öS 613,-