Wie erklärt man China? Der deutschsprachige Diskurs fokussiert sich hierbei in großen Teilen auf die Komplexe Politik und Ökonomie. Exemplarisch liest man in Buchtiteln folglich von der „Neuerfindung der Diktatur“ (Strittmatter), vom „Weg zur Hightech-Weltherrschaft“ (Scheuer), der „Weltwirtschaft von morgen“ (Hirn) oder erhält gar auf die denkbar globalste Frage nach der Zukunft die kompakte Antwort: „China!“ (Sieren). Dabei verorten sich sämtliche Autoren auf diversen Spektren, welche sich zwischen den Polen „Konkurrenz“ und „Kooperation“ bzw. „Chance“ und „Gefahr“ verorten und dadurch oft in geschichtsteleologische Denkmuster und verengte Konklusionsräume geraten.
Feministischer Aktivismus
Mit Leta Hong Finchers Betraying Big Brother und Zak Dychtwalds Young China wird dieses Angebot an einführenden Übersichtsdarstellungen zu Politik und Wirtschaft nun durch zwei amerikanische Publikationen ergänzt, die aus soziographischer Warte zwei Gruppen in den Blick nehmen, denen – vielleicht überraschend – noch relativ wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde: den Frauen und den Millennials. Beide Bücher stammen aus dem Jahr 2018, bieten sich hervorragend zur Parallellektüre an und sind nun frisch als Taschenbuch (Hong Fincher) bzw. in deutscher Übersetzung (Dychtwald) verfügbar.
In medias res: Als die chinesische Regierung am Vorabend des Internationalen Frauentags 2015 fünf feministische Aktivistinnen verhaftete und für 37 Tage gefangen hielt, war die internationale Aufregung groß. Die damalige US-amerikanische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton sprach sich öffentlich für eine Freilassung der Feminist Five aus, auf Twitter war #FreetheFive in aller Munde. Leta Hong Fincher, die bereits durch ihr erstes Buch Leftover Women auf die Stellung der Frau in China aufmerksam gemacht hat, legt zu diesem Diskursphänomen ihr zweites Buch vor. In Betraying Big Brother blickt sie durch das Prisma der Feminist Five auf einen Komplex an politischen, sozialen und ökonomischen Problemen. Unter der Hypothese, dass Sexismus und Misogynie zentrale Kontrollmechanismen der kommunistischen Partei (KP) darstellten und damit fundamental wichtig für deren Machterhalt seien, analysiert Hong Fincher ein breites Œuvre an Folgeerscheinungen: die Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern, diskriminierende Universitäts- und Arbeitsplatzzulassungen, Heirats- und Kinderdruck, sexuelle Gewalt und eine ausgeprägte Vergewaltigungskultur könne man direkt mit der genuin patriarchalen Herrschaft der Partei in Verbindung setzen. Dabei legt sie in engagierter Weise dar, wie wichtig die feministische Konterbewegung in China nicht nur für das Land selbst, sondern auch für die globale Situation der Frauenrechte ist (beinahe 20 Prozent aller Frauen weltweit leben unter der Herrschaft der KP!). Hong Fincher ist stark darin, das „Was“ und das „Wie“ des chinesischen Feminismus zu beschreiben und dessen mannigfaltige Verzweigungen aufzuzeigen. Sie findet einen persönlichen und emotionalen Zugang zu einem für die soziale, politische und ökonomische Entwicklung Chinas ausnehmend wichtigen Thema. Gerade deshalb hätte man aber zum Beispiel gerne mehr über das „Warum“, über die historisch zentrale Rolle der Familie in der chinesischen Gesellschaft oder über die immensen Probleme der Bevölkerungsentwicklung erfahren, als das knappe Kapitel 7 (S. 159-186) zu liefern vermag.
Die Generation der Millenials
Ergänzend bietet sich daher die Lektüre von Zak Dychtwalds Young China an. Ebenfalls aus einer selektiv persönlichen Sicht entwirft der junge Harvard-Absolvent und Gründer eines China-Thinktanks einen dennoch nach Ambivalenzen tastenden Entwurf über diverse Diskursräume der chinesischen Generation nach 1990. Besonders die zentralen Kapitel zur Verflechtung von Heirats- und Hochzeitsmarkt, der sexuellen Revolution und den Leftover Women (S. 99-173) bieten sich parallel zur Lektüre von Hong Fincher an, da sie ein ergänzendes Bild der Situation liefern können. Darüber hinaus behandelt Dychtwald auch die Bereiche Bildung mit besonderem Augenmerk auf die ausgeprägte Prüfungskultur, die Situation sexueller Minderheiten, das Konsumverhalten oder Schönheitsideale. Dabei gelingt es ihm auch dank seiner erfrischend leichten Prosa, immer wieder anregende Diskussionsangebote auf kleine („Warum ist Karaoke so beliebt?“) und große („Wie unterscheidet sich die chinesische von der amerikanischen Sicht auf den Begriff der „Freiheit“?“) Fragen zu dieser neuen Generation zu unterbreiten. Ohne in kulturessentialistische Fallen zu tappen, arbeitet Dychtwald so Unterschiede zwischen einer wie auch immer verstandenen westlichen und chinesischen Generation Y heraus. Dabei betont er jedoch ebenso wie Hong Fincher überzeugend, dass es sich bei den mit dieser Generation einhergehenden sozialen, politischen und ökonomischen Verschiebungen keineswegs um ein rein innerchinesisches, sondern vielmehr um ein global wirkmächtiges Phänomen handelt.