Eva von Redecker

Revolution für das Leben.

Ausgabe: 2021 | 1
Revolution für das Leben.

Revolution für das Leben – das bedeutet für die Sozialphilosophin Eva von Redecker vor allem, sich von kapitalistischer Herrschaft zu befreien. Die Autorin kritisiert insbesondere die „Sachherrschaft“, die dem kapitalistischem System zu Grunde liegt: das Verfügen über Dinge, Menschen, über Sexualität und Lebenswege, welche Überlegenheitsansprüche und „Phantombesitz“ generiert. Phantombesitz bezieht sich auf leere Besitzansprüche, die sich auf die gesamte dingliche und lebende Welt erstrecken und die alles einer kapitalistischen Herrschaftslogik unterordnen.

Zu Beginn  spürt von Redecker dem Ursprung der Sachherrschaft im 17. Jahrhundert nach. In dieser Zeit nahm nicht nur die Kolonialisierung an Fahrt auf; Denker wie John Locke verbanden Freiheit vor allem mit der freien Verfügung über Privateigentum. Die mittelalterliche Allmende wurde endgültig abgeschafft. Die Stellung der Frau verschlechterte sich; sie wurde zum Besitz des Mannes: „Die Verdinglichung sozialer Beziehungen nach dem Muster des Eigentums erlaubte es zumindest den weißen und männlichen Besitzlosen, sich ebenfalls zu Sachherrschern aufzuschwingen.“ (S. 28)

Kapitalismus bedeutet, dass so viel wie möglich verwertet werden soll, auch das „Selbst“. Eine umfassende Erschöpfung ist das Resultat. Dazu kommt eine permanent andauernde Verdinglichung von Arbeiterinnen und Arbeitern in verschiedenen Abstufungen, wobei Hautfarbe und Geschlecht entscheidende Faktoren für persönlichen Status sind: „Innerhalb des Systems sachlicher Herrschaft profitieren die weißen Arbeiter_innen von der Unterdrückung ihrer Genoss_innen. Ihre Arbeit ist im Vergleich immer noch mehr wert, und sie können sich deutlich mehr erlauben.“ (S. 81) Dem „Verlust der Welt“ (S. 107) durch die Zerstörung der Natur widmet von Redecker besonders viel Aufmerksamkeit: „Wir verlieren nicht die Erde. Aber unsere vertraute Welt. Und wir können uns die kommenden Verluste nicht vorstellen, weil wir ohnehin schon weltlos leben.“ (S. 108) Kritik an diesen Verhältnissen muss radikal sein, wie Protestbewegungen, etwa Extinction Rebellion, vorexerzieren.

Eine Revolution ist notwendig

Um die kapitalistischen Verhältnisse zu durchbrechen, braucht es eine Revolution, die einen neuen Universalismus propagiert und auf kleine demokratische Koordinationsmechanismen zurückgreift. Eine „Revolution für das Leben“ wünscht sich die Autorin, welche das Wohl aller in Erwägung zieht und vor allem auf eine neue Gemeinsamkeit setzt: „Wenn wir eine Revolution und nicht nur einen spektakulären Zusammenbruch sehen wollen, müssen wir aus den Zwischenräumen des Alten heraus bereits das Neue schaffen. Es geht nicht darum, das brüchige Gestell in seiner jetzigen Form zu reparieren, schon gar nicht aus dem Bausatz der Sachherrschaft heraus. Wir müssen es mit Verbindungen neuer Art überziehen. Wilde, bewegliche, freie Verbindungen.“ (S. 153)

Wichtig ist dabei zivilgesellschaftliches Engagement in all seinen Facetten; Offenheit; Kreativität; Kunst. Solidarität ist dabei die Grundvoraussetzung – nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Wirken: vom Streik als Instrument der Machtlosen bis zu einer „Ökonomie der Fülle“, welche auf das Konzept der Gegenseitigkeit baut. Kritik an der Familie als patriarchales und kapitalistisches Unterdrückungsinstrument kommt da noch dazu: „Familien, wie wir sie kennen, stutzen Solidarität zur Unkenntlichkeit zurück. (….) Wenn Nachkommen nicht wie vorgesehen funktionieren, finden Familien unzählige Wege, sie kaputtzumachen.“ (S. 227f.)

Ungewöhnliche, provokante Argumente

Von Redecker geht hier äußerst ungewöhnliche, wenn nicht provokante argumentative Wege: So könne eine Ausweitung von Leihmutterschaft traditionelle Familienmuster aufbrechen, dafür breiteren solidarischen Beziehungen den Weg ebnen. Überhaupt soll das Gemeinsame über dem Eigenen stehen, etwa durch die Vergesellschaftung von Ressourcen.

Das Buch schließt mit einem Plädoyer für eine ökologisch-solidarische Lebensform, welche die Regenerationszyklen berücksichtigt, Menschen vom „Phantombesitz“ befreit und freie und gleiche solidarische Beziehungen zwischen Menschen ermöglicht. Die „Revolution für das Leben“ ist der erste Schritt dazu.

Eva von Redecker steht in der Tradition der Kritischen Theorie; entsprechend sind ihre Grundannahmen konstruiert – die jedoch durchaus zu überprüfen wären. Ein Beispiel ist die Kritik an der Familie, die mehr als Ort der Unterdrückung denn als Hort der Geborgenheit gesehen wird. Zudem zeigt von Redecker ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt: Zwar betont sie die Gewaltlosigkeit der Revolution für das Leben, doch relativiert sie Gewalt gegen Eigentum, etwa indem sie Verständnis für Plünderungen zeigt (vgl. S. 256ff.). Revolution für das Leben ist somit weniger eine politische Analyse des Kapitalismus denn eine philosophische Auseinandersetzung, mit durchaus radikalen Ansätzen.