Jenseits von Gut und Böse

Ausgabe: 2009 | 4

Kann man sich ein Leben ohne freien Willen vorstellen? Kann man, sagt Michael Schmidt-Salomon. Und es sieht gar nicht so schlecht aus. Schmidt-Salomon ist Atheist, kritisch-rationaler Philosoph und in den Medien aktiv. Deswegen hat er genügend Kritikerinnen und Kritiker. Was aber ist sein Argument, für das er steht?

 

Beginnen wir mit dem Libet-Experiment: Der Neurophysiologe Benjamin Libet hat in einem Experiment 1979 gemessen, dass die Gehirnaktivitäten für Handlungen früher messbar sind, als der Wille zu dieser Handlung den Versuchspersonen bewusst war. Der Körper wusste etwas vor dem Bewusstsein. Michael Schmidt-Salomon beschreibt, dass diese Erkenntnis in Experimenten vielfach bestätigt wurde (S. 112). Das legt nahe, dass der Wille materielle/körperliche Ursachen hat. Der Wille ist demnach nicht frei, sondern determiniert.

 

Das sei nicht so schockierend, schließlich habe sich die Wissenschaft ohnedies schon vom „freien Willen“ verabschiedet. Wolfgang Prinz, Direktor des Max-Plack-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in München, wird zitiert: „Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat und dass man diese Ursachen finden kann.“ (S. 120) Und auch Schopenhauer wird bemüht, um die Unvereinbarkeit von der Auffassung des „freien Willens“ mit einem logischen Weltbild zu bestätigen: Das Freie sei das in keiner Beziehung Notwendige, das heißt von keinem Grunde Abhängige. Wer für die klassische Idee der Willensfreiheit eintrete, der verlasse den Bereich der logischen Argumentation (S. 117). Die grundlegende Funktion des Bewusstseins sei es nicht, das Verhalten zu steuern, wie man gewöhnlich annehme. Es habe vielmehr die Aufgabe, dem Ich und seiner Umgebung einleuchtende Begründungen dafür zu liefern, warum man sich so und nicht anders verhält beziehungsweise verhalten habe. (S. 113)

 

Ist aber unser Wille in einer Kausalkette determiniert, so führt dies zu einem großen Problem: Ohne Wollen gibt es kein Sollen, und ohne Urteilen und Handeln nach (aus Überlegungen folgenden) Gründen - und nicht lediglich nach Ursachen - kein Richtig und Falsch (S. 115). Gut und Böse stehen damit zur Disposition. Wie kann jemand böse sein, wenn seine Handlungen determiniert sind? Schmidt-Salomon nimmt es gelassen und meint: Fein, dass wir auf Gut und Böse verzichten müssen, denn die Verwendung dieser Begriffe hat viel Unheil angerichtet.

 

 

 

Willens- und Handlungsfreiheit

 

Das Aufgeben des „freien Willens“, das Verwerfen von „Gut“ und „Böse“ scheint uns aber unlogisch: Wir fühlen uns doch frei, zum Beispiel jetzt zu Lesen, was wir wollen. Schmidt-Salomon warnt uns aber vor der Verwechslung von Willens- und Handlungsfreiheit: Wir fühlen uns frei, wenn wir weder durch innere noch durch äußere Zwänge daran gehindert werden, das zu tun, was wir tun wollen. Dass dieser Wille selbst von unzähligen Faktoren bestimmt ist, entzieht sich unserer Wahrnehmung. (S. 202) Während wir Zwänge, die unsere Handlungsfreiheit beschneiden, sehr deutlich spüren, verfügen wir über keinerlei Sensorium, um eine Beschränkung der bloß fiktiven Willensfreiheit zu erspüren (S. 122).

 

Wenn wir aber nur ein Schauplatz von Kausalketten sind, was unterscheidet uns dann von Maschinen? Der Mensch ist nach Aufhebung der Willensfreiheitsunterstellung keine Maschine, sondern immer noch ein Lebewesen. Lebewesen unterscheiden sich von Maschinen, Steinen, Gebirgen oder Tischen dadurch, dass sie von einem Prinzip geprägt sind, das Nicht-Lebenwesen völlig fremd ist: nämlich dem Prinzip Eigennutz (S. 175).

 

Aber woher kommt der Eigennutz, wenn nicht aus Überlegungen des Individuums? Ja, so Schmidt-Salomon, es gibt das Nachdenken. Aber was ist das? Bewusste Denkakte sind interne Handlungen (S. 123), bei denen es intuitiv darum geht, das Beste für sich selbst aus einer Situation herauszuholen (S. 61). Um Eigennutz zu erzielen, so eine zentrale These des Autors, sei der Mensch kreativ. Kreativität versteht er als das Vermögen, vorgegebene Wirkfaktoren so umzukodieren, dass dabei mitunter etwas völlig Neues, noch nie Dagewesenes entstehen kann (S. 176). Aber auch das ist nicht „frei“ im Sinne von beliebig und unbegründet. Vielmehr ist das Selbst, das hier steuert, ein Produkt milliardenfacher Ursachenmotoren - und nur der Tatsache, dass zu diesem Netzwerk von Ursachenfaktoren das Prinzip der eigennützigen Selbststeuerung hinzugezählt werden muss, ist es zu verdanken, dass das individuelle Selbst mehr ist als die bloße Summe der Wirkfaktoren (S. 177).

 

 

 

Willensfreiheit als Fiktion

 

Fakt ist aber, dass wir Menschen fast einhellig davon ausgehen, einen freien Willen zu haben und verantwortlich zu sein für unser Wollen. Und die Mehrheit von uns glaubt auch an das Böse und das Gute. Wie würde eine Welt aussehen, in der die Menschen diesen über Generationen gepflegten Glauben verlören? Zum einen meint Schmidt-Salomon, käme es zu einem höheren Grad an Selbstverantwortung: Gerade die Unterstellung der Willensfreiheit nährt den Willen zur Ohnmacht, also das Bestreben, die Verantwortung für eigene Entscheidungen höheren Autoritäten (politische Führer, Gott, Schicksal etc.) zuzuweisen (S. 162f.) An die Stelle subjektiver Moral setzt der Verfasser Ethik als objektive bzw. objektivierbare Angemessenheit von Handlungen anhand intersubjektiv ausgehandelter Spielregeln. Wenn wir ethisch argumentieren, versuchen wir, Lösungen für Interessenskonflikte zu finden, die für alle Beteiligten fair sind (S. 197). Die (a)moralische Entschuld(ig)ung eines Täters (...) impliziert damit keineswegs die ethische Rechtfertigung seiner Taten, etwa nach der Devise „jenseits von Gut und Böse ist alles erlaubt!“ (S. 202) Diese ethische Erklärung sei auch effektiver beim Verhindern von Wiederholungen: Mystifizierende Begriffe wie „das Böse“ helfen nicht weiter, wenn wir die Ursachen von Grauen verstehen wollen (S. 100).

 

Schließlich meint der Autor auch, dass es sich ohne die Annahme eines „freien“ Willens durchaus gut leben lasse: Versagensängste und Schuldgefühle nehmen ab, man lebt vielleicht sogar freier als diejenigen, die die volle Verantwortung für ihren Willen übernehmen. Man verzeiht schneller, wenn man auch dem Gegenüber den „freien“ Willen zu seiner Tat abspricht. Egomanen werden wir auch nicht: Denn das Naturgesetz des Lebens, Eigensinn, produziere auch Altruismus. Jemand der viel gibt, sendet auf diese Weise ein unmissverständliches Signal an seine Umwelt: „Ich bin gut. Auf mich kannst du dich verlassen.“ „Wenn man diese Botschaft dauerhaft und überzeugend propagiert, so ist der Effekt ein Gewinn an Prestige in den Augen der Mitmenschen.“ (S. 64) Ohne „freien Willen“ werde man gelassener auf die Herausforderung des Lebens reagieren können. Diese Gelassenheit sei freilich kein Widerspruch zum Veränderungswillen. Mit Robert Jungk nennt Schmidt-Salomon dieses Verhalten „brennende Geduld“. (S. 250)

 

Schmidt-Salomons Buch reiht sich ein in die lange Reihe atheistischer Publikationen, die vor allem in den USA, Großbritannien und Frankreich geschrieben werden. Es ist leicht lesbar und erschließt eine relevante Denkrichtung. Die Argumentation ist an etlichen Stellen „wasserdicht“ an anderen wirkt sie dünn, etwa wenn der Begriff des „Spielraums menschlicher Freiheiten“ aufrechterhalten wird (S. 147). Kein Wunder, denn die Arbeit an der Deutung des „Phänomens Mensch“ ist noch nicht abgeschlossen.

 

 

 

 

 

Der Ego-Tunnel

 

Sollte eine Leserin oder ein Leser die Thesen von Schmidt-Salomon plausibel finden, so kann er sich auf Thomas Metzinger einlassen. Schmidt-Salomon bestreitet die Existenz des „freien Willens“. Es gebe zwar den Willen des Lebewesens, dieser sei aber in einer Kette von Ursache und Wirkung determiniert, er sei somit nicht frei. Sein stärkstes Argument: Ein „freier Wille“ ist allem fremd, was wir mit Hilfe von Logik und Empirie als Menschheit in den Naturwissenschaften angesammelt haben.

 

Thomas Metzinger fängt dort an, wo Schmidt-Salomon aufhört. Der „freie Wille“ wird in unserem Alltagsverstand einem Selbst zugeordnet, zumindest glauben wir ihn dort (irrtümlicherweise, wie Schmidt-Salomon unter Hinweis auf Experimente hinzufügen würde) zu erleben. Metzinger fährt schwere Geschütze auf. Er setzt nicht auf das einfache Gegenargument, wonach das Selbst getäuscht wird, dass ein „freier Wille vorhanden sei. Er geht weiter: Das Selbst ist eine Täuschung.

 

In seinem neuen Buch „Der Ego-Tunnel“ setzt Metzinger bei Experimenten und Ergebnissen der Neuro- und Kognitionswissenschaft an. Vor allem die Beschreibung der Versuche führen uns an sein Argument heran. Menschen sind dabei in der Lage Berührungen zu spüren, die sie nur visuell wahrnehmen, sie können Körperteile spüren, die nicht vorhanden sind und durch elektrische Stimulation des Gehirns können Außer-Körper-Erfahrungen herbeigeführt werden.

 

 

 

Realität des „Ich“

 

Das alles seien keine Wunder, sondern eben Möglichkeiten unserer Neuronen mit der Umwelt umzugehen. Was wir vor uns sehen und was wir fühlen, wird uns von unseren Gehirnen, genauer gesagt neuronalen Korrelaten vorgesetzt. Aus Experimenten wissen wir, dass dieses vorgesetzte Bild anders sein kann, wenn die neuronale Funktionsfähigkeit geändert wird. Die „Realität“ die uns erscheint, ist also abhängig von unserem Wahrnehmungsapparat. „Wahrnehmungsapparat“ trifft es schlecht, würde Metzinger einwenden, wer sage dann, dass es den neuronalen Korrelaten um Wahr-Nehmung geht? Und überhaupt: Es geht nicht (nur) um die „Realität vor uns“, das Bild das uns erscheint, umfasst das Ich. Das Ich ist somit somit ebenfalls Ergebnis der manipulierbaren Wahrnehmungsapparate.

 

 

 

Und wozu der Umstand? Warum haben wir Menschen die Möglichkeit entwickelt, uns  selbst ein Ich erscheinen zu lassen? Ganz einfach: Weil ein Organismus, der sich selbst in dieser Weise organisiert, sich in der Evolution als besonders überlebensfähig herausgestellt hat. Ein virtuelles Selbst und eine virtuelle Repräsentation der Realität hat dazu gedient, den Mensch zu sozialen Fähigkeiten wie Empathie zu führen.

 

Und was ist der „Ego-Tunnel“, von dem im Titel des Buches die Rede ist? Metzinger verwendet den Begriff für die Repräsentation der Realität, die wir zu sehen glauben, die unsere Umwelt und unser Selbst darstellt.

 

Wo soll das alles hinführen? Kein „freier Wille“, kein Selbst, wie soll man da leben. Nun: Metzinger hat kein Problem damit. Wie Schmidt-Salomon geht auch sein Leben weiter, es interessieren ihn aber andere Sachen. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass unsere Realität tunnelartig eingeschränkt ist, so will er diese Einengungen überwinden. Folglich tritt Metzinger für die Freiheit ein, selbst zu bestimmen, welchen Bewusstseinszustand er haben will. Er fordert mehr Freiheit im Umgang mit seinem Gehirn, da er nun meint, da gebe es noch viel zu entdecken. S. W.

 

Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München und Zürich: Pendo, 2009. 349 S., € 19,95 [D], 20,60 [A], sFr 44,20; ISBN 978-3-86612-212-3

 

Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin: Berlin-Verl., 2009. 384 S., € 26,- [D], 26,90 [A], sFr 45,50

 

ISBN 978-3-8270-0630-1