Ein Jahr nach Tschernobyl

Ausgabe: 1987 | 4

Die komplizierte Technik der atomaren Energieerzeugung, die auf theoretische Grundlagenforschung aufbaut und ohne sie nicht möglich wäre, ist durch wissenschaftliches Denken, Planen und Handeln nicht in den Griff zu bekommen. Für den Autor hat sich nach Tschernobyl einiges verändert. Zum einen wagt heute kaum noch jemand die »no problem-Haltung« zu vertreten. Die zentrale Frage der Rechtfertigung der Atomenergie ist die des sogenannten „Restrisikos“. Die bisherige Diskussion zeigt aber auch, »dass die grundsätzlichen Fragen technischen Handelns in der Öffentlichkeit schlecht durchschaut werden«, Die Rede vom „Restrisiko“ führt noch immer in die Irre, »denn weder Größe noch Art des Risikos lassen sich so angeben, dass daraus praktisch Sicheres gefolgert werden könnte-. Insofern gibt es keine sicheren Prognosen über Ablauf und Eintreten eines Störfalls. Ebenso wenig kann es sichere Prognosen über die Wirksamkeit von Sicherheitstechniken geben. Ähnlich verhält es sich mit der -so gut wie sicheren« Strahlendosis. Diese Werte enthalten irrationale Normierungen. Über die Verlässlichkeit des zugrunde gelegten Modells der Bewertung erfährt die Öffentlichkeit meist nichts. Hemminger plädiert für alternative, unabhängige Studien, die die Interessenabhängigkeit scheinbar exakter Ergebnisse aufzeigen können und sich so tatsächlich als Kontrollinstrumente eignen. »Falsche Wissenschaftlichkeit beruht immer entweder auf dem Verschleiern objektiver Unerklärbarkeiten, also auf einer Scheingewissheit, oder auf dem Verschleiern von außerwissenschaftlichen Entscheidungen und Absichten, also auf einer Scheinobjektivität. « 

Hemminger, Hansjörg: Die wissenschaftliche Verfügbarkeit der Technik - ein Jahr nach Tschernobyl. In: Materialdienst. Hrsg. von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW); 50. Jg. (1987), Nr. 5, S. 124-132