Der unversöhnte Marx

Ausgabe: 2018 | 3
Der unversöhnte Marx

Der unversöhnte Marx

Die Welt ist in Aufruhr: Wirtschafts- und Finanzkrisen, Religionskriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen auf das kritische Potential Marxscher Überlegungen zurückgreifen. Aber was ist das Charakteristische an seinen Theorien? Viele verorten die „Sprengkraft“ im analytischen Potential seiner Ideen, das es ermöglicht, die gesellschaftliche Tiefenstruktur gedanklich zu durchdringen und in weiterer Folge zu kritisieren. In diesen Fällen wird Marx vorwiegend als Ökonom oder Soziologe betrachtet. Für Michael Quante, dem Autor von „Der unversöhnte Marx“, ist jener durch und durch Philosoph. „Natürlich“, würden viele KennerInnen antworten, „war Marx auch Philosoph! Immerhin schrieb er in seinem Frühwerk über Religion, kritisierte Hegel sowie dessen bürgerliches Denken und grenzte sich später sogar von den Linkshegelianern ab.“ Für Quante käme diese Ansicht jedoch einer „Halbierung“ von Marx gleich. Der Autor ist vielmehr Anhänger der sogenannten „Kontinuitätsthese“. Diese bestreitet, dass es einen Bruch im Werk von Marx gibt, nach dem sich – vereinfacht gesagt – Marx von einem Philosophen zu einem Wissenschafter wandelte. Marx hielt – so Quante – bis tief in sein Spätwerk hinein, an vielen philosophischen Thesenfest, die er bereits in jungen Jahren vertreten hatte.

Marxsche Konzeption setzt einen zu hohen normativen Maßstab

Quante rekonstruiert die Philosophie Marx‘ anhand einzelner Frühschriften und auch anhand der „Kritik der politischen Ökonomie“. Dabei geht er auf den Entfremdungs- und den Anerkennungsbegriff sowie auf geschichtsphilosophische Überlegungen ein. Ein Kern der Marxschen Ethik ist der Gedanke, Menschen sollten sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen anerkennen. Ziel einer jeden Interaktion bzw. einer Gemeinschaft wäre es demnach, die Individualität der Einzelnen zu realisieren, indem ihre Bedürfnisse als solche anerkannt und letztendlich gemeinschaftlich befriedigt werden. Nur so kann laut Marx dem menschlichen Gattungswesen entsprochen werden. Bereits der geldvermittelte Tausch wirkt entfremdend. Unter kapitalistischen Verhältnissen – und nicht nur unter diesen – tritt man nicht um das Bedürfnis des anderen Willens in Interaktion, sondern um die eigenen, zum Teil egoistischen Anliegen zu bedienen. Marx kritisiert, dass sich die Individuen gegenseitig instrumentalisieren; dass das Gegenüber in der Regel als Mittel und nicht als Zweck betrachtet wird. Hier setzt Quantes Kritik ein. Der Autor bemängelt, die Marxsche Konzeption setze einen zu hohen normativen Maßstab. Denn laut Quante führt „die Utopie der Ausschließlichkeit unmittelbarer, altruistisch motivierter Interaktion“, die Marx in letzter Konsequenz fordert, zu „überfordernden Effekte[n] für die Lebensform des Menschen insgesamt“ (S. 49).

Marx und der Mensch als Gattungswesen

Bekanntlich hat die Ware für Marx sowohl Gebrauchs- als auch (abstrakten) Tauschwert. Letzterer ist gesellschaftlicher Natur und konstituierendes Moment warenproduzierender Gesellschaften. Der Wert wird durch Arbeit geschaffen und am Markt realisiert. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass ArbeiterInnen mehr Wert schaffen als sie letztendlich zum Leben benötigen, wird von den KapitalistInnen einbehalten und im Zirkel eines endlosen Produktionsprozesses akkumuliert. Laut Quante betont Marx selbst in seinen späteren, ökonomisch ausgerichteten Analysen das Moment der Entfremdung. Auch dort wird deutlich, dass es der Gebrauchswert ist, der eigentlich im Mittelpunkt gesellschaftlicher Produktion stehen sollte; immerhin ist dies jener Aspekt, der zur Befriedigung von Bedürfnissen führt. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist es jedoch genau umgekehrt: „Tauschwert wird zum Ziel, Gebrauchswert zum Mittel.“ (S. 55) Der Mensch muss sich – will er überleben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben – dieser Zweck-Mittel-Verkehrung, die sich unter kapitalistischen Bedingungen sozusagen verselbständigt haben, unterwerfen. Der Mensch arbeitet und produziert für die Schaffung von Tauschwerten und nicht für die Bedürfnisse der Menschen. Dadurch entäußert er sich seines „Gattungswesens […] als eines sich selbst produzierenden, sich selbst frei bestimmenden und sich selbst zum Zwecke habenden gesellschaftlichen Wesens.“ (ebd.) Folgt man Quante, bleibt Marx somit auch noch im höheren Alter seiner Idee vom Menschen als Gattungswesen treu, der auf eine gemeinschaftliche Lebensführung ausgerichtet ist. Es ist jedoch nicht der Tausch alleine, sondern das gesamte warenproduzierende System, das die Menschen von ihren Erzeugnissen, von ihrer Arbeit, von ihren Mitmenschen und letztlich von ihrem Wesen entfremdet. Angesichts der zunehmenden Zahl an Konflikten sowie der vielen ökologischen und wirtschaftlichen Krisen stünde Marx den gegenwärtigen Verhältnissen – wohl mehr denn je – „unversöhnlich“ gegenüber. Dominik Gruber

 

Bei Amazon kaufenQuante, Michael. Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr. Münster: Mentis, 2018. 115 S., € 12,90 [D], € 13,30 [A]  ISBN 978-3-95743-120-2