Robert Pfaller, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz, sorgt immer wieder für Debatten. Die Bücher mit denen er diese auslöst, sind gleichermaßen provokant wie inspirierend. Diesmal hat er Überlegungen zur Scham angestellt.
Pfaller konstatiert, dass unsere Gegenwartskultur ein auffällig hohes Maß an Scham pro-duziert. „Vermehrte Schamanlässe, Beschämungen und Gegenbeschämungen, gezieltes Anprangern und schamlose Schambehauptungen sorgen für regelrechte schambasierte Affektgewitter.“ (S. 133)
Und was ist Scham?
Was aber ist Scham? Pfaller führt den von Octave Mannoni konzipierten „naiven Beobachter“ ein, der immer glaubt, was er sieht. Der „naive Beobachter“ ist der Teil von uns allen, der es uns erlaubt, Horoskopen, Glücksbringern und Zaubertricks zu vertrauen. Pfaller nennt ihn das „Unter-Ich“. Das Unter-Ich findet das Ich immer großartig.
Im nächsten Schritt der Argumentation greift Pfaller auf den „primären Narzissmus“ zurück. Der Mensch verabschiedet sich in seiner Entwicklung von der kindlichen Vorstellung, dass Wünschen gleichbedeutend mit Verwirklichen wäre. Schnell lernt er, dass es neben der Innenwelt der Wünsche eine Außenwelt gibt, in der Manches möglich ist und Manches eben ausgeschlossen, unmöglich. Alles Mögliche wird sortiert, eine Ordnung entsteht. Dann kann es aber im Leben passieren, dass für unmöglich Gehaltenes sich doch realisiert. Das ist uns dann unheimlich, das Wort verwendet Sigmund Freud für dieses Phänomen.
Das Unter-Ich, dieser Teil von uns, der das Ich für großartig hält, kann nichts damit anfangen, wenn das Ich Dinge tut, die „unmöglich“ sind. Das Ich passt dann nicht mehr in die Ordnung, es ist etwas aufgetreten, etwas Überschüssiges, das weg muss. An dieser Stelle entsteht die Scham.
Die Verpflichtungen der Scham bestehen nicht nur im Verbot, sich unmöglich zu verhalten, sich Blößen zu geben und diese zu zeigen. Sie beinhaltet auch die Verpflichtung, über Blößen Anderer hinwegzuschauen sofern sie sich doch einmal zeigen. (S. 74) Dieses Wahren des Anscheins ist ein solidarischer Akt, den erwachsene Menschen leisten können. Die Verletzung der Verpflichtungen der Scham tritt also nicht ein, wenn andere von einem verächtlichen Umstand erfahren – sondern vielmehr erst dann, wenn es ihnen unmöglich ist darüber hinwegzusehen. „Nicht das Wissen und die Missbilligung der anderen, sondern das Scheitern einer bis dahin von allen aufrechterhaltenen Illusion ist die Ursache für die tödlichen Wirkungen der Scham.“ (S. 76)
Pfaller wundert es nicht, dass Beschämungen heute häufiger werden. Denn in einer Gesellschaft, in der das Versprechen der Gestaltbarkeit einer besseren Zukunft nicht mehr als glaubwürdig empfunden wird, komme es zu einem Verlust an Zukunftsperspektiven. „Wer keine Zukunft hat, beruft sich verstärkt auf seine Herkunft.“ (S. 134) Menschen suchen dann keine Partner:innen, mit denen man etwas in der Zukunft erreichen kann, sondern konzentrieren sich auf das, was sie von anderen unterscheidet. Gesellschaftlich führt dies offenkundig zu einer massiven Entsolidarisierung. (S. 134) Doch gerade die Solidarität wäre aber eine der Verpflichtungen der Scham (s. o.).
Muss die Scham nun weg?
Pfaller diskutiert die Argumentation von Ludwig Marcuse, der meinte, das Obszöne sei lediglich das fiktive Produkt eines elitären gesellschaftlichen Vorurteils. Wenn das Obszöne also nur eine Konstruktion sei, ist sie als Auslöser der Scham mit ihr abschaffbar. Die mit dem Obszönen verbundene Affekte der Scham und des Ekels seien somit etwas Überflüssiges. (S. 130) Pfaller widerspricht und erinnert daran, dass er das Obszöne und damit die Scham aus der psychologischen Überwindung des Infantilen erklärte: Aus der Einteilung in Mögliches und Unmögliches und dem Schock, wenn dann doch Unmögliches (eben Obszönes) stattfindet. „Dass Menschen sich schämen, lässt sich nicht verhindern.“ (S. 131) Es gehe heute darum, zu verhindern, dass durch Ausnutzung der Scham Ungleichheiten produziert werden. Auch in einer befreiten Gesellschaft würden Menschen sich regelmäßig verschiedener Dinge schämen. Aber sie würden dadurch nicht eine inferiore Position gegenüber anderen geraten.