Gérald Bronner

Kognitive Apokalypse

Ausgabe: 2023 | 2
Kognitive Apokalypse

Wer bei dem Titel „Kognitive Apokalypse“ des französischen Soziologen Gérald Bronner einen Abgesang auf die Moderne im Sinne eines Kulturpessimisten erwartet, liegt falsch, zumindest größtenteils. Stattdessen legt Bronner unter Bezugnahme auf soziologische, psychologische, neurobiologische sowie anthropologische Erkenntnisse dar, wie die Menschheit angesichts eines historischen Maximums an verfügbarer „Gehirnzeit“ durchschnittlich 3,7 Stunden am Tag mit ihrem Smartphone verbringt, statt sich zu einer Zivilisation „des Wissens und der Weisheit“ zu entwickeln.

Dazu zeichnet Bronner nach, wie es im Laufe der Jahrhunderte dazu kam, dass durch steigenden Wohlstand weniger Zeit für Jagen, Sammeln und Lebenserhaltung verwendet und mehr Zeit für geistige Betätigung freigesetzt wurde. In einem zweiten Schritt wird anhand zahlreicher Beispiele gezeigt, wie digitale Medien um Aufmerksamkeit buhlen, weshalb sie meistens erfolgreich sind und welche Auswirkungen dies auf zahlreiche Lebensbereiche hat – vom Kaufverhalten über unsere sozialen Beziehungen bis hin zur Schlafdauer. Oft liefern diese Ausführungen spannende Erkenntnisse, an manchen Stellen mögen die miteinander in Zusammenhang gebrachten Phänomene allerdings willkürlich wirken.

Der Titel „Kognitive Apokalypse“ bezieht sich dabei nicht auf ein digitales Weltuntergangszenario, sondern auf die begriffliche Bedeutung der fundamentalen Enthüllung. Die Natur des Menschen würde durch digitale Medien nicht verzerrt, sondern offengelegt, „die Logik des Marktes enthüllt die invarianten Neigungen unseres Geistes“, so Bronner (S. 147). Der daraus entstehende digitale Markt führe jedoch zu kognitiven Verzerrungen wie beispielsweise der stärkeren Nachfrage nach negativen Schlagzeilen, die deutlich mehr Klicks generierten als Positive. Bronner fordert daher eine Regulierung dieses Marktes, damit nicht noch mehr freie Gehirnzeit auf „der Müllhalde unserer Aufmerksamkeit“ (S. 254) landet. Wie das konkret geschehen soll, lässt er allerdings offen.