Große Transformation?

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Große Transformation?

Der Titel des Buches bezieht sich auf den Klassiker des Wirtschaftssoziologen, Juristen und Ökonomen Karl Polanyi (1886-1964) The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time (1944). Polanyi stammte aus Ungarn, emigrierte zuerst nach Wien und dann 1934 nach England. Später lehrte er an der Columbia University in New York. Unter der „Großen Transformation“ verstand Polanyi den Wandel von den Agrar- zu Marktgesellschaften, in Form der Einführung freier Märkte für die „fiktiven Waren“ Arbeit, Boden und Geld. Seine zentralen Thesen sind: Sich selbst regulierende Märkte, ohne staatliche Eingriffe, funktionieren nicht, vor allem aufgrund ihrer sozialen Konsequenzen. Die Behauptung, dass alle vom wirtschaftlichen Wachstum profitieren würden („Trickle down“-Konzept), habe wenig historische Substanz. Die Ideologie des freien Marktes diente industriellen Interessen – und sie wurde selektiv eingesetzt: Sobald es für die eigenen Interessen günstig war, rief man nach Interventionen der Regierung. Das Buch stellte eine fundamentale Kritik des Marktliberalismus – repräsentiert v. a. durch Ludwig von Mises und  Friedrich Hayek – dar, der aufgrund der führenden Rolle Englands zum leitenden Prinzip der Weltwirtschaft wurde. Polanyi stellte die These auf, dass die Liberalisierung in einer „Doppelbewegung“ (double movement) erfolgt sei: Dem Prinzip des sich selbst regulierenden freien Marktes und der dadurch bewirkten sozialen Desintegration stehe das „soziale Schutzbedürfnis“ der Gesellschaft gegenüber. Dieses könne sich in Form sozialistischer oder faschistischer Gegenbewegungen ausdrücken.  Polanyi verfasste das Buch in den USA der frühen 1940er-Jahre. Er untersuchte darin die Umstände des Ersten Weltkriegs, der Großen Depression und des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Für ihn ist die zweite „Große Transformation“ – der Aufstieg des Faschismus in Europa – eine Folge der ersten, nämlich des Aufstiegs des Marktliberalismus mit seinen sozialen Verwerfungen. Vor diesem Hintergrund forderte er einen sozialstaatlich eingebetteten, gezähmten Kapitalismus. War das Pendel nach 1945 im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Regulierung der Wirtschaft und Sozialstaat ausgeschlagen, so setzte in den 1980er-Jahren die globale Hegemonie des Neoliberalismus ein.

Lassen sich moderne Gesellschaften auch anders stabilisieren als über wirtschaftliches Wachstum stabilisieren?

Unter Bezug auf das Buch von Karl Polyani hat der Sozialhistoriker Philip Ther mit Das andere Ende der Geschichte (2019) die jüngsten politischen Entwicklungen seit der Wirtschaftskrise von 2007/08 – vor allem die Wahl von Trump 2016 – analysiert und als nach rechts pendelnde Gegenbewegung gegen den Laissez-faire-Kapitalismus gedeutet.

Das von Klaus Dörre u. a. herausgegebene Buch Große Transformation? ist aus den Aktivitäten der Forschungsgruppe „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Zur (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften“ hervorgegangen, die 2011 bis 2019 an der Universität Jena gearbeitet hat. Das „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ wurde von Klaus Dörre, Hartmut Rosa und Stephan Lessenich geleitet. Im Mittelpunkt der Forschungstätigkeit der Gruppe stand die Frage: Lassen sich moderne Gesellschaften – im Kontext der Klimakrise und der Bedrohung der Lebensgrundlagen – auch anders stabilisieren als über wirtschaftliches Wachstum, steigende technische Effizienz und wachsenden materiellen Wohlstand? Damit reagieren die Forscherinnen auf die „ökonomisch-ökologische Zangenkrise“ und das „Wachstumsdilemma“ des Kapitalismus (Klaus Dörre): Wirtschaftswachstum als bisher geläufiges ökonomisches Mittel, um soziale und wirtschaftliche Krisen zu bekämpfen, kann nur um den Preis der Verdrängung der ökologischen Folgen angewendet werden.

Der reichhaltige Band umfasst drei Teile

Der reichhaltige Band umfasst Beiträge von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kollegs sowie von ehemaligen Fellows, u. a. Ulrich Brand, Margaret Abraham, Harald Welzer und Markus Wissen. Er hat drei Teile:

  • die Darstellung der These des „Kollegs Postwachstumsgesellschaften“, dass die Zeiten von permanentem Wachstum zu Ende seien;
  • die Behandlung der „Zukunft von Wachstum, Wohlfahrt und Demokratie“, u.  a. Fragen der Zukunft der Arbeit, der Natur, der Mobilität, der Ungleichheit;
  • mögliche Pfade des gesellschaftlichen Wandels, u. a. am Beispiel der Degrowth-Bewegung und  der Solidarökonomie. Der Band wird abgeschlossen mit einer Reflexion der Rolle der Soziologie in der Großen Transformation.

„Zukünfte der Nachhaltigkeit“

Aus der Fülle möchte ich den einleitenden Artikel des Projektleiters Klaus Dörre genauer referieren und zuerst zwei Artikel hervorheben: Besonders hilfreich finde ich den Beitrag von F. Adloff und S. Neckel „Modernisierung, Transformation oder Kontrolle?“ in Teil II (167ff.). Auf Basis des derzeit laufenden DFG-Kollegs „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ beschreiben die beiden Autoren idealtypisch drei mögliche Entwicklungspfade:

  • Nachhaltigkeit als Modernisierung durch technische und soziale Innovation (marktorientierter Ansatz, „grünes Wachstum“ durch eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch);
  • Nachhaltigkeit als Transformation im Sinne einer Alternative zur Modernisierung, hin zu einer nicht-konkurrenziellen und nicht-wachstumsorientierten Sozialordnung;
  • Nachhaltigkeit als Kontrolle: die Dystopie einer globalen Apartheid, bei der sich die globalen Eliten im Zuge eines ökologischen Notstands in geschützte Enklaven zurückziehen.

Der Abschnitt zum Möglichkeitsraum „Transformation“ bietet einen interessanten Überblick zur Vielfalt gegenwärtiger Transformationsströmungen und ihrer Beziehung zueinander: Postkapitalismus (P. Mason), Buen Vivir (A. Acosta), Postwachstumsgesellschaft (K. Dörre, H. Rosa), Degrowth, „Decroissance“ (B. Muraca), Post-Development, solidarische Ökonomie, „reale Utopien“ (E. O. Wright) usw. Ebenso bietet der Beitrag von D. Eversberg und B. Muraca über „Degrowth-Bewegungen“ im Teil III (487ff.) einen informativen Einblick in mittlerweile ausdifferenzierte Landschaft von Theorie- und Praxisansätzen. Gegenüber Postwachstumsansätzen, die v. a. auf die quantitative Reduktion des Bruttonationalprodukts konzentriert seien, beanspruchen die Autoren, dass „Degrowth“ der Schlüsselbegriff für weitergehende Ansätze sei, in Richtung einer qualitativ anderen Gesellschaft, bei dem die ökologische Krise, globale Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens zusammengedacht werden.

„Wir stehen an einem Umschlagspunkt“

Im Eingangsartikel („Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkrise, Nachhaltigkeitsrevolution“, S. 3-34) fasst der deutsche Soziologe Klaus Dörre zentrale Ergebnisse der achtjährigen Forschungsarbeit zusammen. Zunächst erklärt er das Theorem der kapitalistischen Landnahme: Ohne Expansion könne der Kapitalismus nicht existieren. „Land“ bezieht sich hier nicht nur auf Grund und Boden, sondern auch auf Bevölkerungsgruppen, Lebensformen, und in jüngster Zeit zunehmend, auf Daten, usw., die mit dem Ziel der Profitabilität in den Warentausch einbezogen werden. Dieser systemische Zwang zur ständigen Expansion zeige sich heute in der weiten Verbreitung von prekärer, halb- und unfreier sowie informeller Arbeit, die mittlerweile „für große Mehrheiten die Normalität darstellt“ (S. 8). In den Marktgesellschaften werden die Imperative des Marktes (Wettbewerb, Akkumulation, Profitmaximierung) verallgemeinert und auf alle Gesellschaftsbereiche ausgedehnt. Für Dörre zeigt die ökonomisch-ökologische Zangenkrise das Ende der massiven neoliberalen Globalisierung seit Mitte der 1970er-Jahre an. Schon vor der Coronavirus-Pandemie stand für den Soziologen fest: Wir stehen an einem Umschlagspunkt. „Die nach Gewissheit drängende Ahnung, sich inmitten einer großen gesellschaftlichen Transformation zu befinden, die in vielem der Suche nach einem Notausgang gleicht, ist in das Alltagsbewusstsein eingesickert.“ (S. 15)

Drei mögliche Entwicklungsrichtungen für ein Postwachstumsmodell

Ohnehin sei die Phase der hohen Wachstumsraten wahrscheinlich zu Ende – aber selbst die aktuell niedrigen Wachstumsraten, primär auf Basis des Einsatzes fossiler Energien, seien noch hoch genug, um mit bedrohlich hohen Treibhausgasemissionen einherzugehen (S. 20). Das Modell ständiger Steigerung von Wachstum, Effizienz, Konsum materieller Güter sei immer weniger ein Mittel um die Gesellschaft zu integrieren. Im Gegenteil: „In der neuen Ära (…) wird die ökologische und soziale Destruktivität eines auf fossilen Energien basierenden Wachstums zum wichtigsten Konfliktgegenstand.“ (ebd.) Die entscheidende Frage für Dörre scheint gar nicht zu sein, ob wir den Wachstumspfad fortsetzen oder nicht; das Einschwenken auf ein Postwachstumsmodell scheint für ihn festzustehen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie wir den Übergang dahin möglichst konstruktiv gestalten und mit dem damit verbundenen „sozialökologischen Transformationskonflikt“ (S. 21) umgehen – zwischen Beharrungskräften, die noch möglichst lange vom fossilen Kapitalismus profitieren oder an gewohnten Lebensweisen festhalten wollen, und gesellschaftlichen Veränderungskräften. Dörre unterscheidet grundsätzlich drei mögliche Entwicklungsrichtungen:

  • eine machtzentrierte Strategie, bei der die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Nachhaltigkeitsrevolution bestritten wird und die soziale Frage vornehmlich in einem nationalen Rahmen gesehen wird (u. a. rechtspopulistische Bewegungen). Dörrie hält fest, dass diese Variante auch im Spektrum der etablierten Parteien und „in Teilen der verunsicherten Eliten“ zu finden ist, was sicherlich auch für Österreich zutrifft.
  • Eine marktkonforme Lösungsstrategie: Der systemimmanente Wachstumszwang wird akzeptiert und sozial-ökologisch eingehegt. Das wichtigste Marktinstrument ist dabei eine CO2-Steuer.
  • Eine systemverändernde Transformationsstrategie: Diese erscheint Dörre gegenwärtig „besonders unrealistisch“ (S. 28). „Das könnte sich jedoch ändern, wenn deutlich wird, dass marktkonforme und auch marktkorrigierende Strategien nicht ausreichen, um den Klimawandel zu stoppen.“ (ebd.)

Für Dörre ist fraglich, ob eine echte Nachhaltigkeitsrevolution, die aus ökologischen Gründen dringend geboten ist, gelingen kann, ohne die zentralen Imperative zu Akkumulation und Marktexpansion anzutasten, die dem Kapitalismus immanent sind. Er kommt deshalb zum Schluss: Wer eine Nachhaltigkeitsrevolution will, ist „gut beraten, sich die Möglichkeit einer Gesellschaft offen zu halten, die ohne Expansionszwang existieren kann.“ (S. 29)   

Der Band beschäftigt sich nicht bloß mit einzelnen Krisensymptomen und Maßnahmen im kleinen Bereich dagegen, sondern mit dem Kern der gegenwärtigen Krise: der systemimmanenten Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsform. Das Kolleg stellte die fundamentale  Frage nach dem weiteren Weg der vom globalen Norden dominierten Moderne im Angesicht des zunehmenden Überschreitens von „planetaren Grenzen“. Die sich verstärkende Erderwärmung und der galoppierende Artenverlust, auf den der Internationale Biodiversitätsrat (IPBES) im Mai 2019 in seinem ersten globalen Bericht hingewiesen hat, sind alarmierende Signale. Sie weisen darauf hin, dass das Wirtschaftsmodell der ständigen Steigerung  die Belastbarkeit der Ökosysteme auf gefährliche Weise überschritten hat. Der „Kapitalismus im Netz des Lebens“ (Jason W. Moore) droht dieses zu zerreißen, wenn wir nicht fundamental umsteuern. Sich nur mit einzelnen, individuellen Maßnahmen und persönlichen Lebensstiländerungen zu begnügen – auch wenn diese wichtig sind –, ohne die makroökonomische Systemfrage zu stellen, würde dieser Herausforderung nicht gerecht werden. Bruno Kern bezeichnet das in seinem Buch Das Märchen vom grünen Wachstum (2019) als „beliebte Immunisierungsstrategie“ und als Ausweichmanöver.

Der Umstieg von einer wachsenden zu einer stationären Wirtschaft ist möglich

Im Vorwort formulieren die Herausgeber eines der Ergebnisse des Kollegs wie folgt: Es habe sich im Zug der Forschungen herausgestellt, „dass die Kopplung zwischen Wachstumszwang und gesellschaftlicher Stabilität möglicherweise weniger eng ist als angenommen“ (S. 1). Verwiesen wird dabei u. a. auf das historische Beispiel des Handelskapitalismus im 16. Jahrhundert, der auch mit niedrigem, langsamem Wachstum funktionierte. Diesen wichtigen Punkt hätte man noch stärker ausarbeiten können, im interdisziplinären Brückenschlag der Soziologie zur Wirtschaftswissenschaft, wo einige Pioniere aus dem dominierenden Wachstumsparadigma ausscheren und unterschiedliche Ansätze repräsentieren. Zu nennen sind etwa der US-amerikanische Ökonom Herman E. Daly, der 1996 Beyond Growth: The Economics of Sustainable Development veröffentlicht hat (dt.: Wirtschaft jenseits von Wachstum, 1999), Tim Jackson, Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Surrey (UK) und Direktor des „Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity“ (CUSP), der 2009 das Buch Prosperity without Growth veröffentlicht hat (dt. Wohlstand ohne Wachstum, 2017), oder die britische Ökonomin Kate Raworth, die an der University Oxford lehrt (Die Donut-Ökonomie, 2018). Dass eine industrielle Volkswirtschaft nicht wachsen muss, um funktionieren zu können, bestätigt auch die Forschung des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Robert M. Solow, der 1987 für seinen Beitrag zur Theorie des Wirtschaftswachstums („A Contribution to the Theory of Growth“, 1956) den Nobelpreis erhielt. Der Umstieg von einer wachsenden zu einer stationären Wirtschaft ist möglich, ohne dass sie deswegen zusammenbricht, auch wenn sich der Übergang dahin schwierig gestalten wird.

Ein aufschlussreicher Einblick in gegenwärtige Diskurse

Sicherlich richtet sich der Band an einen wissenschaftlich interessierten Kreis. Die verschiedenen Disziplinen haben selbstverständlich ihre Fachsprachen, andererseits herrscht in bestimmten geisteswissenschaftlichen Milieus oft ein sperrig-abstrakter akademischer Jargon. Wenn man sich nicht abschrecken lässt, kann man einen äußerst aufschlussreichen Einblick in gegenwärtige Diskurse über Postwachstum, Degrowth und die Überwindung der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen) gewinnen. Aber zugleich taucht die Frage auf, wie ein Brückenschlag zwischen den Vertreterinnen und Vertretern radikaler Alternativen und dem Mainstream der Gesellschaft hergestellt werden kann – der Mehrzahl der Menschen, die sich für den nächsten Autokauf, die nächste Shoppingtour, den nächsten Urlaub, das nächste Wochenende, den nächsten Stammtisch oder die Bezahlung der nächsten Kreditrate, die Begleichung der nächsten Miete usw. interessiert – und nicht für die Überwindung des Kapitalismus. Welche gemeinsame Sprache, welchen Dialog, welchen Ausstieg aus den jeweiligen weltanschaulichen Blasen und Sprachspielen brauchen wir, damit tatsächlich ein Gespräch darüber zustande kommt, wie wir in Zukunft leben wollen?