10 Bücher. 10 Themen

Ausgabe: 2022 | 2
10 Bücher. 10 Themen

Zehn kurze Rezensionen finden Sie nachfolgend, geschrieben von Elisabth Lechner, Carmen Bayer, Josef Hörmandinger, Winfried Kretschmer, Anne Kolckmann, Jonas Drechsel, Hans Holzinger, Luisa Wilczek, Stefanie Gerold und Katharina Kiening. 

Liv Strömquist: Im Spiegelsaal

Komplexe philosophische Inhalte humorvoll und klug in Bildsprache mit Wiedererkennungswert verwandeln und nebenbei eine Tour de Force durch die westliche Kulturgeschichte von Lea mit den „spektakulär unattraktiven Augen“ im Alten Testament bis hin zu Kim Kardashians Selfies im Spätkapitalismus hinlegen? Das schafft nur eine: Liv Strömquist! Im Spiegelsaal ist ein Frontalangriff auf patriarchale Vorstellungen von Schönheit mit eindrücklichen, widerspenstigen Visuals. Ganz schön feministisch also. EL

Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Avant Verlag, Berlin 202; 152 Seiten

Rainer Hehl · Patricia Ventura · Sascha Delz. Housing the Co-op.

Housing the Co-op. A Micro-Politcal Manifesto hält, was es im Titel verspricht. Das kleinformatige, farbenfrohe Buch fasst die Grundprinzipien von genossenschaftlichen Bauprojekten anhand diverser Projektbeschreibungen von Zürich bis Südamerika zusammen: „Co-operatives are based on the values of self-help, self-responsibility, democracy, equality, equity and solidarity.“ (S. 50) Den Autor:innen ist es ein besonderes Anliegen, den gesamtgesellschaftlichen Mehrwert von Genossenschaften herauszuarbeiten: Neben der Entschärfung von Wohnungsnot haben solche Vorhaben aufgrund ihres partizipativen Ansatzes das Potential, mehr soziale Durchmischung und ein gelingendes Miteinander in Städten zu ermöglichen. CB

Rainer Hehl, Patricia Ventura, Sascha Delz. Housing the Co-op. A Micro-Political Manifesto. Ruby Press, Berlin 2020; 240 Seiten

Olga Shparaga. Die Revolution hat ein weibliches Gesicht

Olga Shparagas Buch ist keine historisch neutrale Beschreibung der Ereignisse, es ist Chronik, Analyse und Manifest. Mit der weißrussischen Präsidentschaftswahl 2020 und dem Antreten des „Vereinigten Teams“ um Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo sind die Proteste gegen Diktator Lukaschenko in eine neue Dimension eingetreten. Olga Shparaga schildert, wie in Belarus vorwiegend Frauen aus dem Schatten treten und zu Trägerinnen einer „revolution in progress“ werden, egalitär, gewaltfrei, solidarisch und mutig. Und sie zeigt, dass es ohne Gleichberechtigung der Frau keine gesellschaftliche Freiheit geben kann. JH

Olga Shparaga. Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021; 234 Seiten

Steffen Mau: Sortiermaschinen

Heute entpuppt sich der Glaube, wir lebten im Zeitalter sich öffnender Schranken, erweiterter Mobilitätsmöglichkeiten und durchlässiger werdender Grenzen als Illusion, schreibt der Soziologe Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der durch seine Arbeiten über die Quantifizierung des Sozialen bekannt geworden ist. Er sagt: Es ist falsch, Globalisierung mit porösen oder gar verschwindenden Grenzen zu assoziieren oder gleichzusetzen. Sie sei viel mehr als komplexer in sich auch widersprüchlicher Prozess zu fassen, der Öffnung und Schließung gleichermaßen mitdenkt. Ein wichtiges Buch. WK

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert. C.H. Beck Verlag, München 2021; 189 Seiten

Katharina Nocun · Pia Lamberty: True Facts

Katharina Nocun und Pia Lamberty zeigen mit diesem Ratgeber, wie wir effektiv Verschwörungserzählungen in unserem alltäglichen Umfeld begegnen können, etwa durch verschiedene Argumentationsstrategien und Tipps für den Fall, dass der inhaltliche Diskurs nicht mehr zielführend ist. Basierend auf der Psychologie, Systematik von Verschwörungsideologien und ihrer Rolle in den digitalen Medien, werden diese mit anschaulichen Beispielen aus der Praxis illustriert. AK

Katharina Nocun, Pia Lamberty: True Facts: Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft. Quadriga Verlag, Köln 2021; 176 Seiten

Katharina Liesenberg · Linus Strothmann: Wir holen euch ab!

Katharina Liesenberg und Linus Strothmann waren aktivistisch an der Erfolgsgeschichte der gelosten Bürgerräte beteiligt, die aktuell im deutschen Koalitionsvertrag gipfelt. Mehr gleichberechtigte Teilhabe verspricht sich die Ampel-Koalition durch den Einsatz dieses Instruments. Das Buch zeichnet den persönlichen Weg der Autor:innen nach und vermittelt Wichtiges über Partizipation innerhalb der Systemgrenzen. Der Kernaspekt ist etwas Neues: Das sogenannte „aufsuchende Verfahren“, das sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen zurück in die demokratische Diskursarena zu holen. Jede Person, die sich mit Bürgerräten beschäftigt, sollte sich mit den Qualitäten dieses Ansatzes auseinandersetzen. JD

Katharina Liesenberg, Linus Strothmann: Wir holen euch ab! Wie wir durch Bürgerräte und Zufallsauswahl echte Vielfalt in die Demokratie bringen. oekom Verlag, München 2022; 256 Seiten

Olaf-Axel Burow: # Schule der Zukunft. Sieben Handlungsoptionen

Ohne eine radikal veränderte Bildungslandschaft wird es nicht gelingen, das Nullemissionsziel – wie von der Politik gesetzt – bis spätestens 2050 zu erreichen. Die Einlösung dieses ambitionierten Ziels innerhalb von knapp drei Jahrzehnten setzt nicht nur den Abschied von unseren gewohnten Lebens- und Konsumstilen voraus, sondern benötigt auch entsprechende Denkmodelle, Haltungen und Fähigkeiten. So die Überzeugung des Zukunftsdenkers Olaf-Axel Burow. Wie diese andere Schule aussehen könnte, beschreibt er in seinem neuen Buch. HH

Olaf-Axel Burow: # Schule der Zukunft. Sieben Handlungsoptionen. Beltz Verlag, Weinheim 2022; 215 Seiten

Henry Mance: Mit Tieren leben

„Der moderne Mensch strebt nicht nach Herrschaft. Wir streben nach Gerechtigkeit.“ (S. 445) Henry Mance macht in seinem Buch deutlich, dass wir diese Gerechtigkeit auch auf alle Tiere, die Schmerz empfinden können, übertragen müssen. Dazu gehört, dass wir die Massentierhaltung überdenken und uns den Auswirkungen des Artensterbens, der Überfischung und des Klimawandels bewusst werden. Ein Buch, das nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch zum Handeln bewegt. Nachfolgende Generationen werden uns sonst vielleicht fragen: Habt ihr das gewusst und nichts getan? LW

Henry Mance: Mit Tieren leben. Warum wir das Verhältnis zwischen Mensch und Tier neu definieren müssen. Kein & Aber Verlag, Zürich 2021 · 500 Seiten

Amelia Horgan: Lost in Work

Anschaulich zeigt Amelia Horgan, wie uns Erwerbsarbeit immer stärker beansprucht: Durch prekäre Arbeitsverhältnisse, schlechte Bezahlung oder stetig steigende Anforderungen. Doch der Autorin geht es nicht nur um die Verbesserung konkreter Arbeitsbedingungen. Denn was alle Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus eint, sind ungleiche Eigentums- und Machtverhältnisse, die das Mitspracherecht von Beschäftigten in Unternehmen stark einschränken. Um Änderungen zu erreichen, müssten sich Beschäftigte wieder stärker organisieren, z.B. im Rahmen von Gewerkschaften. SG

Amelia Horgan: Lost in Work. Escaping Capitalism. Pluto Press, London 2021; 176 Seiten

John B. Thompson: Book Wars

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Soziologe John B. Thompson an der University of Cambridge mit Kommunikationstheorie, der Medienbranche im Allgemeinen, dem Buchmarkt im Speziellen sowie durch Digitalisierung stattfindende Umwälzungsprozesse im privaten oder politischen Bereich. Mit Book Wars. The Digital Revolution in Publishing legt Thompson nun erneut eine weitreichende Recherche vor, die sich diesmal am Beispiel der angloamerikanischen Verlags- und Buchbranche ansieht, inwiefern die digitale Revolution eben jene Mediensparten bisher verändert hat und nach wie vor verändert. Eine komplexe Untersuchung, die ihre Zusammenfassung wohl am besten mit dieser Aussage findet: „The social reality of technological change in any industry – and especially in an old media industry like book publishing – is a messy affair that is inseparably bound up with power and conflict, as the pursuit of new opportunities by some is often at someone else’s expense.“ (S. 475)

Thompson beobachtet eine Welt in Veränderung, deren weitreichende Umstrukturierung offensichtlich nicht abgeschlossen ist, wir finden uns also mit seiner Analyse in media res. Und gleichzeitig dauern die durch neue Technologien motivierten oder auch erzwungenen Erneuerungsprozesse mittlerweile lange genug an, um seine Bestandsaufnahme als gewinnbringende, rückblickende Analyse zu lesen. Wir erfahren etwa, dass das E-book keineswegs den radikalen Umbruch herbeigeführt hat, wie er häufig prognostiziert wurde, dass dafür aber Amazon ein absoluter Gamechanger war, indem es ein bis dato unbekanntes Machtgefälle provoziert hat; oder wir lesen über Eigenverlage, Aboservices, Audiobooks und Soziale Medien, durch die sich die Beziehung der Verlage zu den Leser:innen verändert hat bzw. verändern musste. KK

John B. Thompson: Book Wars: The Digital Revolution in Publishing. Polity Books, New York 2021; 450 Seiten