Zur Verfassung Europas

Ausgabe: 2011 | 3

Jürgen Habermas beginnt sein neues Buch „Zur Verfassung Europas“ mit einer längeren Erörterung der Menschrechte. Diese sind für ihn kein sozialutopisch ausgemaltes Bild eines kollektiven Glücks, sondern eine realistische Utopie, da sie als ideales Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten verankert werden (S. 33). Ihm geht es um die globale Ausbreitung der Menschenrechte. In internationalen Beziehungen entstehen moralische Verpflichtungen aus der zunehmenden Verflechtung untereinander (S. 37). Diese schreitet voran und liefert die empirische Begründung für die über-nationalstaatliche Institutionalisierung der Menschenrechte. Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa stehe im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Welt- gesellschaft und blockiere Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse (S. 44).

 

Die europäische Integration bewertet Habermas vor diesem Hintergrund: „Die Europäische Union lässt sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen“ (S. 40). Doch Habermas sieht zwei Probleme: Die mangelnde Handlungsfähigkeit angesichts der wirtschaftlichen Krise und falsche politische Begriffe. Die ökonomische Blickverengung sei vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise verständlich. Rechtliche Verabredungen im Kreise der Regierungschefs seien vor dieser Matrix jedoch entweder wirkungslos oder undemokratisch. Der institutionelle Aufbau der Europäischen Union sei vorerst unzureichend, um eine angemessene politische Antwort zu geben. Habermas meint, man müsse “eine demokratische unbedenkliche Institutionalisierung gemeinsamer Entscheidungen“ erreichen (S. 41). Die oben erwähnten falschen politischen Begriffe werden bei der konkreten Ausgestaltung dieser demokratischen Institutionen zum Hindernis. Habermas versucht dies zu überwinden: Auf der europäischen Ebene solle der Bürger gleichzeitig sowohl als Unionsbürger wie auch als Angehöriger des Staatsvolkes sein Urteil bilden und politisch entscheiden können. „Jede Bürgerin nimmt an den europäischen Meinungs- und Willenbildungsprozessen sowohl als einzelne autonom `ja´ und `nein´ sagende Europäerin wie als eine Angehörige einer bestimmten Nation teil.“ (S. 69)

 

Als Unionsbürger soll er in transnationalen Wahlen (nach einheitlichem Wahlrecht) ein Europäisches Parlament wählen. Als Bürger eines Staatsvolkes soll er auf der europäischen Ebene durch den Rat vertreten sein. „Auf allen Politikfeldern solle ein Gleichgewicht zwischen Rat und Parlament herrschen. Die Europäische Kommission soll schwächer, nämlich von beiden Institutionen in symmetrischer Weise abhängig sein.“ (S. 73) Habermas spricht von der „konsequenten Fortführung der demokratischen Verrechtlichung der Europäischen Union“ (S. 81).

 

Die Erfahrungen der Europäischen Union sind hilfreich beim Denken über eine Verfassung der Weltgesellschaft. Habermas kann sich keine Weltrepublik vorstellen, wohl aber „eine überstaatliche Assoziation von Bürgern und Staatsvölkern in der Weise, dass diese Mitgliedsstaaten wiederum die Verfügung – wenn auch nicht das Recht zur freien Verfügung – über die Mittel legitimer Gewaltanwendung behalten. Die Nationalstaaten würden neben den Weltbürgern das zweite verfassungsgebende Subjekt der Weltgemeinschaft (S. 86). Diese Beschreibung stimmt mit seinen Zielvorstellungen für die Europäische Union überein. Nötig sei dies, weil der destruktive Druck der Finanzmärkte klar mache, dass eine Weltinnenpolitik so oder so entstehe und Probleme bringen werde. Demokratische Strukturen im europäischen und Weltmaßstab würden diese zumindest bearbeitbar machen (S. 96).

 

 

 

 

 

Gemeinschaftsdefizit?

 

Deutlich anders sieht mit Amitai Etzioni einer der führenden Kommunitaristen die Situation der Europäischen Integration. In seinem Buch „Vom Empire zur Gemeinschaft“ grenzt er sich (neben langen Auseinandersetzungen mit der Außenpolitik der USA) klar von Auffassungen wie jener von Jürgen Habermas ab. Während Habermas um eine Demokratisierung bzw. eine demokratische Verrechtlichung ringt, hält Etzioni die Vergemeinschaftung für entscheidend. Dass ich die beiden Theorien nicht einfach verbinden lassen, legen beide Autoren klar. Habermas will, seine Forderung, den Aufbau der Europäischen Union nicht nur in direkter demokratischer Legitimation durch die einzelnen Bürger, sondern auch durch die Bürger als Angehörige von Nationalstaaten zu gestalten, auf keinen Fall als „kommunitaristisches Entgleisen“ (Habermas, S. 72) verstanden wissen und erklärt dies im Detail. Etzioni wiederum macht „libertäres“ Denken für die Krise der Europäischen Union verantwortlich (Etzioni, S. 273). Etzioni hält auch – ohne Habermas zu nennen – die Konzentration auf die Demokratisierung der EU für einen Fehler. „Viele von denen, sie sich mit der Entwicklung der Europäischen Union befassen, konzentrieren sich auf das sogenannte Demokratiedefizit. … Es gibt allerdings noch ein ganz anderes Defizit, das nicht so häufig untersucht wird, und das ist das Gemeinschaftsdefizit. Ohne starke Bindungen zwischen den EU-Mitgliedern und starke Loyalitäten gegenüber der EU haben die Europäer wenig Bereitschaft gezeigt, größere Opfer von der Art zu bringen, wie sie Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft füreinander bringen. … Damit das Demokratiedefizit verringert werden kann, muss das Gemeinschaftsdefizit abgebaut werden.“ (S. 277)

 

Zurzeit befinde sich die Europäische Union zwischen zwei Stufen der übernationalen Zusammenarbeit. Sie stelle mehr als ein zwischenstaatliches Bündnis aber weniger als eine supranationale Einheit dar. Etzioni sagt, dass dies zum Scheitern der Europäischen Union führen werde. „Nach meiner Vorhersage wird das Experiment EU zeigen, dass es unmöglich ist, zwischen zwei Stufen stehenzubleiben. Man muss sich entweder auf eine höhere oder eine niedrigere Stufe der Integration begeben, und ein höherer Integrationsgrad bedeutet Supranationalität.“ (Etzioni, S. 276)

 

 

 

 

 

Bürokratieüberfluss

 

Im Stil und in der Herangehensweise unterscheidet sich Hans Magnus Enzensberger deutlich sowohl von Etzioni als auch Habermas. Enzensberger hat mit „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“ eine Streitschrift gegen den Zustand der europäischen Integration geschrieben. Enzensberger scheint genervt. Weder treibt ihn die Frage an, wie die Europäische Union als Baustein für eine demokratische Weltordnung genutzt werden kann (Habermas). Noch stellt er sich die Frage, ob die europäische Integration ohne Gemeinschaftsgefühl der Bürgerinnen und Bürger überhaupt funktionieren kann (Etzioni). Enzensberger ärgert sich über Bürokratie, Abgehobenheit und Regulierungswahn. Dabei erfährt der Leser, dass Enzensberger durch die EU-Vorschriften zur diskreten Verpackung von Zigaretten an „Zeiten des Absolutismus“ erinnert wird (S. 15). Einzig vor der Kultur mache die unermüdliche Einmischung der EU in unser Alltagsleben halt, weil die EU mit ihr „noch nie viel am Hut gehabt“ habe (S. 21). Die Institutionen der EU zeichnen sich durch die besondere Abgehobenheit ihre Mitarbeiter aus. „Diese Abgehobenheit ist kein Fehler, sie ist sogar erwünscht; denn nur so kann überzeugend dargetan werden, daß man unparteiisch vorgeht.“ (S. 35). Auch die Wirtschaftskrise sei durch das Vorantreiben der wirtschaftlichen Integration in Europa verschärft worden. Erst diese „Geschichtsblindheit“ (S. 43) habe mit der Währungsunion und dem Brechen der eigenen EU-Verträge zur Verschuldung die aktuelle Situation heraufbeschworen. „Der Geister, die sie rief, kann die Union nicht mehr Herr werden. Instrumente, wie sie seit eh und je bei einer Insolvenz gebräuchlich waren, […] können nicht einmal ernsthaft erwogen werden, weil sie die Märkte `beunruhigen´ und den deutschen, britischen französischen und belgischen Gläubigerbanken schaden könnten.“ (S. 48)

 

Enzensberger zitiert Hannah Arendt. Sie sprach 1975 vom „Druck einer sich abzeichnenden Veränderung aller Staatsformen, die sich zu Bürokratien entwickeln, das heißt, zu einer Herrschaft weder von Gesetzen noch Menschen, sondern von anonymen Büros oder Computern, deren völlig entpersönlichte Übermacht für die Freiheit und für jenes Minimum an Zivilität, ohne das ein gemeinschaftliches Leben nicht vorstellbar ist, bedrohlicher sein mag als die empörendste Willkür von Tyranneien in der Vergangenheit.“ (S. 60)

 

 

 

 

 

Drei Fehler der EU

 

Jochen Bittner ist seit 2001 politischer Redakteur und fasst in seinem Buch „So nicht, Europa!“ seine Kritik am europäischen Einigungsprojekt zusammen. Bittner sieht drei Fehler.

 

Erstens investiere die Europäische Union übermäßig Energie und Zeit in Regulierungen mit begrenzter Bedeutung. Er nennt als Beispiel, dass man elf Jahre um die Definition von Mineralwasser rang (S. 58). Gleichzeitig fällt das Engagement mit großen Fragen der Weltpolitik äußerst übersichtlich aus: Bittner nennt den Umgang mit China. „Kommission, Rat und Parlament richten ihre Ambitionen aufs Kleinliche statt aufs Große.“ (S. 110). Kleines werde zu groß, Großes zu klein, sagt Bittner.

 

Zweitens finden die großen moralischen Debatten im Europäischen Parlament statt – ausgerechnet dort, wo diese Debatten am wenigsten Einfluss haben. „Für das EP ist es so einfach, als moralisches Schwergewicht aufzutreten, weil es so ein politisches Leichtgewicht ist“ (S. 141). Im Gegensatz dazu regiert bei politisch gravierenden Entscheidungen oft die Notwendigkeit zur Ungenauigkeit, um so Kompromisse zu ermöglichen: unkonkrete Außenpolitik gegenüber Ländern wie dem Iran oder Schuldenlimits mit der Möglichkeit für Ausnahmen können hier erwähnt werden. Weiches zu hart, Hartes zu weich, so der Autor.

 

Drittens kommt es zu einem Auseinanderdriften der Einstellung zur europäischen Integration. In der politischen Klasse und der europäischen Beamtenschaft werden Pläne, Weißbücher und eine Verfassung ausgearbeitet, in der Bevölkerung nimmt das Bekenntnis zu Europa nur langsam zu. Oben zu schnell, unten zu langsam, fasst Bittner den Widerspruch zusammen. Erst wenn Hartes hart behandelt und wenn Großes groß gespielt werde und die Bürger das Gefühl bekommen, bei alle dem etwas mitzureden zu haben, könne es noch zur Entdeckung Europas kommen (S. 278).

 

 

 

 

 

Europäische Asylpolitik

 

Zwei weitere Bücher befassen sich mit Aspekten der europäischen Integration. Jürgen Gottschlich und Sabine am Orde haben sich mit der Migrationspolitik der EU beschäftigt. Christina Deckwirth mit der Handelspolitik der EU.

 

Gottschlich/am Orde geben einen sehr gut leserlichen Überblick über die Migrationspolitik. Beide stammen aus der Berliner „tageszeitung taz“. Die Migrationspolitik wird in ihren konkreten, humanitär verheerenden Auswirkungen beschrieben. Gleichzeitig wird aber auch nüchtern dargestellt, wie das aktuelle System der Asylverfahren in der Europäischen Union entstand. Von der Öffnung der Binnengrenzen durch den Vertrag von Schengen ging die Notwendigkeit aus, eine gemeinsame Asylpolitik zu betreiben. Diese kam jedoch seit damals nur schrittweise voran, immer wieder scheitert die Vereinheitlichung am Widerstand einzelner Länder. Obwohl es sich seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 um einen Politikbereich der EU handelt, kommt es zu keiner Klärung einheitlicher Standards. Seit wichtigen Entscheidungen im Jahr 2002 („Dublin II“) gilt das Prinzip, dass nur ein Asylantrag gestellt werden darf. Dieser wird in der Regel im ersten Land nach der Einreise gestellt. Damit sind Länder mit langen Außengrenzen (zum Mittelmeer) wie Griechenland in überdurchschnittlichem Maße mit Anforderungen zur Bewältigung solcher Verfahren konfrontiert. Die ökonomische Situation dieser Staaten führt in Folge zu katastrophalen menschlichen Bedingungen. Die systematisch gleichmäßige Verteilung von AsylwerberInnen in der EU stößt auf Widerstand der mittel- und nordeuropäischen Länder.

 

 

 

 

 

Freie Dienstleistungen

 

Christina Deckwirth beschreibt die Entwicklung der europäischen Politik zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors detailliert. Ihr Buch „Vom Binnenmarkt zum Weltmarkt“ ist der Schule der Regulationstheorie zuzurechnen. Sie beschreibt das Bemühen der Europäischen Kommission, den Markt für Dienstleistungen zu deregulieren. Deckwirth kommt zum Ergebnis, dass die Europäer bei den internationalen Verhandlungen (vor allem im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO) besonders aktiv waren. Die Ergebnisse waren trotzdem übersichtlich, weil es den Verhandlern der EU an politischem Rückhalt in den Mitgliedsstaaten und in der europäischen Dienstleistungsindustrie mangelte. Und darüber hinaus waren die Erfolge von geringerer Bedeutung, weil die WTO als Ganzes an Einfluss verliert. S. W.

 

Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp, 2011. 129 S. € 14,00 [D], 14,40 [A], sFr 24,50 ; ISBN 978-3-518-06214-2

 

Etzioni, Amitai: Vom Empire zur Gemeinschaft. Ein neuer Entwurf der Internationalen Beziehungen. Frankfurt: S. Fischer, 2011. 362 S., € 22,95 [D],

 

23,60 [A], sFr 40,10 ; ISBN 978-3-10-017024-8

 

Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Berlin: Suhrkamp, 2011. 68 S. € 7,00 [D], 7,20 [A], sFr 12,25

 

ISBN 978-3-518-06172-5

 

Bittner, Jochen: So nicht, Europa! Die drei großen Fehler der EU. München: dtv, 2011. 279 S., € 14,90  [D], 15,40 [A], sFr 26,10 ; ISBN 978-3-423-24833-4

 

Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand? Hrsg. v. Jürgen Gottschlich … Frankfurt: Westend-Verl., 2011. 220 S. € 12,99 [D], 13,40 [A], sFr 22,70

 

ISBN 978-3-938060-64-3