Daniel Kahneman, Oliver Sibony, Cass R. Sunstein

Noise

Ausgabe: 2022 | 1
Noise

Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat mit Schnelles Denken, langsames Denken einen Weltbestseller vorgelegt. Gleiches gelang Cass R. Sunstein mit Nudge. Nun haben sich die beiden mit Olivier Sibony zusammengetan und ein Buch geschrieben, das ebenfalls das Zeug hat, einer zu werden: Noise. Ihr Thema sind Urteilsfehler. Bislang wurden diese vor allem unter dem Oberbegriff Bias thematisiert, also systematische Abweichungen, die auf kognitiven Verzerrungen von Denkprozessen basieren, etwa Selbstüberschätzung, Verlustaversion, Verfügbarkeitsheuristik et cetera. Biases leuchten ein, denn sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach kausalen Erklärungen. Noise hingegen ist ein rein statistisches Phänomen. Nur eine statistische Betrachtungsweise befähigt uns, es zu erkennen, und das ist wohl der Grund dafür, dass Noise weniger auffällig und weniger bekannt ist als Bias.

Urteilsfehler verstehen lernen

Mit dieser Schieflage aufzuräumen, ist das zentrale Anliegen dieses Buches. „Wenn wir Urteilsfehler verstehen wollen, müssen wir sowohl Bias – die systematische Abweichung, die Verzerrung – als auch Noise – die Zufallsstreuung, das störende Rauschen – verstehen.“ (S. 11) Bei Bias liegen die Abweichungen in einer Richtung, bei Noise sind sie gestreut. Noise liegt vor, wenn Entscheidungen abhängig von der Person des Entscheiders und oder ihn beeinflussender Rahmenbedingungen bei sonst gleichen Voraussetzungen zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen. Etwa wenn straffällig gewordene Menschen für genau die gleiche Straftat unter ansonsten gleichen Bedingungen völlig unterschiedliche Strafmaße erhalten. Oder wenn, wie in den USA geschehen, ein Richter fünf Prozent der Asylsuchenden anerkennt, ein anderer aber 88 Prozent. Noise findet sich überall, wo entschieden wird: in der Medizin, bei Vorhersagen, bei Asyl- und Personalentscheidungen, in der Justiz, bei Versicherungen, im Patentwesen, in der Kriminaltechnik, etwa bei der Beurteilung von Fingerabdrücken – und beinahe immer sind sie verbunden mit krassen Ungerechtigkeiten. Das sei nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, reklamieren die Autoren: „Wo Urteile getroffen werden, gibt es Noise – und zwar mehr, als man gemeinhin erwartet.“ (S. 18)

Ein eminent wichtiges Buch

In ihrem Buch befassen sich Kahneman, Sibony und Sunstein ausführlich mit der Entstehung von Fehlurteilen und den Bedingungen der Urteilsbildung; am Ende wenden sie sich der großen Chance zu, die sich mit einer Zurückdrängung von Noise – durch neue Prozesse oder durch Algorithmen – verbinde: „Riesige Summen würden eingespart, die öffentliche Sicherheit würde sich verbessern, das Gesundheitssystem wäre effizienter, es gäbe weniger Ungerechtigkeiten, und viele vermeidbare Fehler würden verhindert.“ (S. 416) Zweifellos ein eminent wichtiges Buch, weil es die krassen Ungerechtigkeiten ins Blickfeld rückt, die aus rein zufälligen Konstellationen bei Entscheidungen entstehen. Zu hinterfragen ist allerdings die implizite Annahme, dass es für jeden Entscheidungsfall eine bestmögliche Entscheidung gebe. Eine, die sich aus der Sachlage selbst ergibt und nicht erst von den beteiligten Menschen verhandelt werden muss. Allzu technikgläubig erscheint auch das Vertrauen auf Algorithmen. Die mögen Noise zwar treffsicher eliminieren, das Problem ist aber, Algorithmen biasfrei zu bekommen: frei von systematischen Verzerrungen