Marcia Bjornerud

Zeitbewusstheit

Ausgabe: 2021 | 2
Zeitbewusstheit

Marcia Bjornerud, amerikanische Geologieprofessorin, erlebt als Kind den Reiz der Zeitlosigkeit: über Nacht fällt viel Schnee, die Schule entfällt, und der Tag liegt frei von Regeln vor ihr. Abenteuer werden möglich, aber zuhause wartet die unveränderte Geborgenheit. Bei geologischen Untersuchungen für ihre Doktorarbeit auf Spitzbergen, wo keine amtliche Zeit herrscht, verändert sich ihr Verhältnis zu Zeit. Wo so wenig an den Menschen erinnert, vieles aber von einer langen Naturgeschichte zeugt, erkennt sie, dass vergangene Ereignisse immer noch gegenwärtig sind und sich eines Tages sogar erneut abspielen könnten. Nicht Zeitlosigkeit offenbart sich ihr, sondern Zeitbewusstheit, „ein jähes Bewusstsein, dass die Welt (…) aus Zeit gemacht ist“ (S. 12).  Es ist der Geologin ein großes Anliegen, für diese Zeitbewusstheit zu sprechen und uns vom Alter der Erde zu erzählen, damit wir ein Gespür für die Zeit entwickeln können. Mit einem „geologischen Denken“ (S. 28) vollzieht sich eine Veränderung im Bewusstsein von der Entwicklung der Erde, und davon, welchen Platz wir Menschen darin einnehmen. Verstehen mehr Menschen die gemeinsame Geschichte der Erde, würden wir einander und den Planeten besser behandeln. Zudem könnte das gemeinsame geologische Erbe einen Rahmen schaffen für die Diskussion globaler Probleme, für die sich in einer gespaltenen Welt wie der heutigen keine gemeinsame Philosophie finden lässt, die alle Parteien an einen Tisch bringen könnte.

Über Zeit, Luft und Erde

Die Hauptkapitel widmen sich vor dem Hintergrund der Evolution den Schwerpunkten Zeit, Erde und Luft: Zunächst wird höchst wissenschaftlich von der entdeckungsreichen und mitunter mühsamen Kartierung der Zeit, der geologischen Zeitskala, erzählt, die von verschiedenen Forschern mit unterschiedlichen Methoden erstellt wurde und noch heute verfeinert wird. Im dritten Kapitel erfahren wir von den Rhythmen der Erde: wie erstaunlich Tektonik, Erosion, Gebirgsbildung und evolutionäre Anpassung auf unserem Planeten aufeinander abgestimmt sind. Um die Evolution der Atmosphäre geht es im vierten Kapitel. Interessant ist auch die Darstellung der großen Krisen der Erde, bei denen meist eine rasche Veränderung der Umwelt lange Phasen der Stabilität beendete, weil sich die Lebewesen nicht schnell genug anpassen konnten. So folgt im fünften Kapitel die Auseinandersetzung mit unserem Verständnis des Klimawandels.  Die stabile Phase des Holozäns, die die Entwicklung des Menschen ermöglichte, endet mit dem Anthropozän. Der heutige Kohlenstoffausstoß ist „ein extremer geologischer Ausreißer“ (S. 175). Bjornerud geht auch auf diverse technische Überlegungen ein, dem Klimawandel zu trotzen, wie künstliche Bäume zur CO2-Bindung, die Düngung der Meere mit Eisen, oder das Spritzen von Sulfat in die Stratosphäre. Doch stellt sie die Überheblichkeit und Kurzsichtigkeit heraus, die diese Techniken offenbaren, sowie die großen Wissenslücken, wenn es beispielsweise um das globale maritime Mikrobiom geht. Es liegt eine Ironie im Anthropozän, denn „unser übergroßer Einfluss (hat) der Natur wieder das Kommando in die Hand gegeben (…), mit einem noch unveröffentlichten Regelwerk, das wir nun schlicht erahnen müssen“ (S. 187).

Wir haben eine Wahl

Das häufige Argument, wir hätten keine andere Wahl mehr, als gezieltes Klimamanagement zu betreiben, ist für Geowissenschaftler „wahnhaft und gefährlich“ (S. 186).  Die harte Wahrheit sei, dass zwischen der Zeit, die es braucht, um Naturdinge zu zerstören und der Zeit, diese wiederherzustellen, eine enorme Asymmetrie liegt. Im Anthropozän kehren wir nach einem abenteuerreichen Tag im Schnee nicht zurück in ein unverändertes Heim: wir müssen uns der Zerstörung stellen und uns von der Illusion lösen, wir seien vom Verstreichen der Zeit ausgenommen. Die Vergangenheit abzuschaffen und nur im Jetzt zu leben, ist obsolet. Andere Kulturen zeigen, dass Zeit nicht linear, sondern zirkulär empfunden werden kann: Der buddhistische Begriff der Achtsamkeit („sati“) meint keine Fixierung auf den Moment, sondern ein Erinnern der Gegenwart, ein Gewahrwerden des Moments von einem außerhalb liegenden Punkt.

Wir sollten uns als Erbinnen und Erblasser verstehen, und für die Zeitspanne, die uns Menschen bleibt, eine andere Geschichte als die der Zerstörung schreiben. Bjornerud schlägt ein Zukunftsministerium vor, das die nachfolgenden Generationen vertritt; ihnen seien wir zu Dank verpflichtet, da sie unserem Leben eine sinnvolle Ausrichtung auf Zukunft ermöglichen.

Das Buch berührt, da es uns mit der Tiefe der Zeit, dem Alter der Gesteine und den Geschichten des Lebens in Beziehung zu setzen vermag. Es offenbart gleichsam ewige Wahrheiten, die in den Steinen zu unseren Füßen stecken, und zeigt uns, wie ein Berg zu denken: wie wir mit Zeitbewusstheit in einem haltlosen Jetzt Vergangenheit und Zukunft zurückgewinnen können.