Annette Kehnel

Wir konnten auch anders

Ausgabe: 2022 | 3
Wir konnten auch anders

Annette Kehnel, Professorin für Mittelalterliche Geschichte, schildert Ansätze eines Wirtschaftens unter Beachtung ökologischer Kreisläufe. Das Mittelalter erscheint darin nicht als finstere Epoche, in der die Mehrheit der Menschen unter miserablen hygienischen und wirtschaftlichen Bedingungen gelebt hätte, wie dies etwa Steven Pinker beschreibt, sondern als Epoche blühender kooperativer Wirtschaftsformen. Kehnel porträtiert Waldgenossenschaften, gemeinschaftlich genutzte Almweiden oder Fischgründe; sie schildert die Ordnungen der Handwerkerzünfte sowie des weit verbreiteten Reparaturgewerbes. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Berufe ist – so wird im Buch deutlich – keine Erfindung des arbeitsteiligen Wirtschaftens der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Über 1500 Berufe soll es allein im mittelalterlichen Frankfurt gegeben haben. Second Hand-Läden sind ebenso keine neue Erfindung. Denn Re-Use und Recycling war im Mittelalter gang und gäbe. Die neu entstehenden Klöster oder den Frauen vorbehaltene Beginen-Gemeinschaften schildert Kehnel als innovative Formen von „Ermöglichungsgemeinschaften“ (S. 97) mit dem Ziel, weitgehend autark zu wirtschaften. Mit dem im Spätmittelalter aufkommenden Bankenwesen der florierenden Handelsstädte sind auch neue Finanzierungsformen für Kleinbetriebe entstanden  – den späteren Genossenschaftsbanken oder heutigen Mikrokredit-Bewegungen ähnlich.

Kehnel eröffnet neue Sichtweisen: „Vor der Erfindung des Kapitalismus arbeiteten die meisten Menschen nicht besonders lange“, schreibt sie. „Rhythmus und Geschwindigkeit des Lebens waren andere. Die Menschen verfügten sicherlich über weniger Geld, aber sie hatten mehr Zeit.“ (S. 32) Die Historikerin leugnet die diversen Probleme des Mittelalters nicht, macht aber deutlich, dass wir aus der vorkapitalistischen Wirtschaftsgeschichte durchaus für die Bewältigung der aktuellen ökologischen und sozialen Probleme lernen könnten. Wir müssten uns einem „Realitätscheck“ (S. 14) stellen, meint sie. Der „Erfindung der Wegwerfgesellschaft“ (S. 12) sowie dem „homo oeconomicus“, dem „verzweifelten Helden der Moderne“ (S. 13) müsse ein gemeinschaftlich orientiertes Wirtschaften in Kreisläufen folgen. Die erfordere auch einen mentalen Wandel. Denn: „Wie eine Wolke schwebt das unausgesprochene Gesetz der linearen (Höher)-Entwicklung in unseren Köpfen.“ (ebd.). Wir sind gut beraten, uns davon zu lösen.