Zeitvorstellungen - wie Kulturen mit Zeit umgehen

Ausgabe: 1999 | 1

„Orte haben wie Menschen eine eigene Persönlichkeit”, ist Robert Levine überzeugt, und da die Zeit der „Eckpfeiler des sozialen Lebens” sei, biete die Untersuchung von Zeitvorstellungen an unterschiedlichen Orten einen wertvollen Zugang zur „Psyche einer Kultur”. Der Sozialpsychologe an der California State University stellte sich daher der Aufgabe, „systematisch zu erforschen, wie Orte sich in ihrem Lebenstempo unterscheiden”. In Städten aus 31 Ländern hat er Zeitanalysen durchgeführt, als Indikatoren dienten ihm dabei die „durchschnittliche Gehgeschwindigkeit zufällig ausgewählter Fußgänger”, die Schnelligkeit am Arbeitsplatz (gemessen an der Zeit, die Postbeamte brauchten, „um eine Standardbriefmarke zu verkaufen”) sowie als drittes die „Genauigkeit von 15 zufällig ausgewählten Uhren an Bankgebäuden in wichtigen Geschäftsvierteln”. Zugleich wurden etwa die Zusammenhänge zwischen Zeitstrukturen und Gesundheit oder Hilfsbereitschaft der StadtbewohnerInnen erhoben. Das Ergebnis: Tendenziell schneller bewegen sich Menschen in Regionen mit einer blühenden Wirtschaft, einem hohen Industrialisierungsgrad und einer „auf den Individualismus ausgerichteten kulturellen Orientierung” (S. 38). Schneller unterwegs ist man auch in Städten mit einer größeren Einwohnerzahl („Das durchschnittliche Großstadtkind lief beinahe doppelt so schnell durch den Supermarkt wie das Kleinstadtkind durch den kleineren Lebensmittelladen.” S. 46); und in Gebieten mit einem kühleren Klima („Die langsamsten Völker liegen in den Tropen, in jenen Gebieten, in denen Menschen aus den schnellsten Ländern gern ihren Winterurlaub verbringen.” S. 48). Der Zeitforscher vergleicht diese „fünf Grundfaktoren, die das Tempo der Kulturen in der ganzen Welt bestimmen” mit anderen sozialwissenschaftlichen Studien, die seine Ergebnisse bestätigten, und ergänzt sie um interessante Berichte aus ethnologischen Forschungen. (So legen etwa die Kelantaner, ein Volk in Malaysia, „großen Wert auf Langsamkeit, Hast wird als Verstoß gegen die geltenden ethischen Regeln angesehen.” S. 214)

Das Buch bietet darüber hinaus viel Lesenswertes zur „Geschichte der Uhrzeit”, dem subjektiven Zeiterleben („psychische Uhr”, „Ereignis-Zeit”), den Zusammenhängen von Zeit und Macht („Die Regeln des Wartespiels”) sowie zu den Auswirkungen unterschiedlicher Zeitstrukturen auf das Wohlbefinden (der Autor spricht von einer „Eilkrankheit”) und das Sozialverhalten. Vorschläge für ein bestimmtes Lebenstempo gibt Levine jedoch nicht, vielmehr empfiehlt er „Multitemporalität”: „Die Fähigkeit zum raschen Handeln, wenn die Lage es erfordert, zum Loslassen, wenn der Druck vorüber ist, und ein Gespür für die vielen zeitlichen Zwischenstufen”. (S. 284) H. H.

Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München (u. a.): Piper, 1998. 320 S., DM 39,80 / sFr 37,- / öS 291,-