Alessandro Baricco

Die Barbaren

Ausgabe: 2019 | 3
Die Barbaren

Der mit „Seide“ oder „Die junge Braut“ international erfolgreiche Schriftsteller Alessandro Baricco, bewandert in Musikwissenschaft und Philosophie, hat sich im vorliegenden Buch einem Thema gewidmet, das den weltoffenen und ebenso heimatverbundenen Turiner auch in bisherigen Werken zu faszinieren schien: Das Unbekannte, unsere Abwehr davor, und das Phänomen des menschlichen Wandels. Vor den Augen der LeserInnen denkt Baricco darüber nach, was vor sich geht, wenn an den verschiedensten Orten das Gefühl auftaucht, wir würden beraubt, Wertvolles geplündert, mühevoll Errichtetes zertrümmert – von – ja, von wem? Es können nur Barbaren sein.

Vor unseren Augen deshalb, weil das Buch Gedanken zusammenführt, die der Autor im Jahr 2006 wöchentlich in der Zeitschrift La Repubblica veröffentlichte und diese Form es Jahre später noch vermag, die LeserInnen mitzunehmen; immer wieder fordert er dazu auf, sich etwas zu notieren oder selbst weitere Forschung zu betreiben. Trotz rasanter Neuerungen in der Welt seit 2006 ist die Publikation thematisch höchst aktuell: Die Frage nach dem Umgang mit Fremdem und Neuem treibt uns heute sogar besonders um – Bariccos Antrieb, die Notwendigkeit des Denkens, besteht also fort.

Er untersucht einige Geschehnisse, die ihm naheliegen: Was passiert heutzutage mit dem Wein, dem Fußball und den Büchern? Im Zuge einer intensiven Kommerzialisierung, einer modernen Sprache, der Anpassung ans amerikanische Vorbild, dem Hang zu Spektakularität und technologischer Neuerung lassen sich enorme Veränderungen feststellen. Was Baricco als „Hollywoodwein“ beschreibt, hat kaum mehr mit der traditionsreichen Kenner- und Könnerschaft französischer und italienischer WinzerInnen zu tun. Der Wein muss weder in der Herstellung noch im Genuss besondere Ansprüche erfüllen. „Dieser Wein negiert eines der Prinzipien unserer Ästhetik, nämlich die Idee, dass man, um die höchste Würde eines wahren Wertes zu erlangen, über den steinigen Pfad wenn nicht des Leidens, so doch mindestens der Geduld und des Lernens gegangen sein muss. Die Barbaren kennen diese Idee nicht“ (S. 46). Was vor sich geht, scheint einem Verlust an Seele gleichzukommen. Doch einig mit dem Kulturkritiker Walter Benjamin gibt Baricco zu denken, dass mit technologischen Neuerungen nicht zwangsläufig ein Niedergang der Kultur zu befürchten sei, sondern eine Weiterentwicklung, der sogar ein befreiendes Moment innewohnen kann. Denn im Gesamten betrachtet, lässt sich in den vielen Beobachtungen eine zusammenhängende Bewegung erkennen: Als würde der Mensch Kiemen und Flossen entwickeln, um sich fortan im Wasser zu bewegen.

Vor der Mutation ist nichts zu retten

Die Metaphern, die Baricco wählt, mögen in diesem Feld der Kulturforschung zunächst verwirren und etwas leichtfüßig daherkommen – sie helfen aber zu verstehen, welche präzise durchdachte These er nun aufstellt: Dass diese und viele weitere Mikrogeschehnisse nicht einzelne Plünderungen von Barbaren sind, die es zu verdammen und im Zaum zu halten gilt, sondern einzelne Bewegungen eines Tieres, dessen gesamte Bewegung und Richtung nur verständlich wird, wenn man die Teile zusammenführt. Es sei eine Mutation im Gange, die uns alle betreffe, so Baricco. Einzelne Geschehnisse anzuklagen oder Verluste zu beweinen, helfe niemandem weiter. Auch bei anderen historischen Begebenheiten, wie Beethovens Neunter Sinfonie oder dem bürgerlichen Roman, die zu ihrer Zeit als Bedrohung der Kultur angesehen wurden, ließ sich erst im Nachhinein die damit einhergehende, größere Umwälzung wahrnehmen. Während einige noch Angst vor dem Wasser haben und Fische als Feinde ansehen, beginnen andere bereits, „mit den Kiemen von Google“ (S. 93) zu atmen. Indem wir dies erkennen, sei es möglich, an dieser Mutation teilzuhaben und auf sie einzuwirken. Denn die Zukunft ist nicht unabhängig von unseren Wünschen. Anstatt von Grenzziehungen wäre es wichtig, mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit im Strom der Veränderung Kurs zu halten und sich gut zu überlegen, was man nicht verlieren möchte. Vor der Mutation wird nichts zu retten sein, aber in der Mutation. Was das nun genau sein könnte und wie leicht oder schwer das sein würde, bleibt offen. Insofern entlässt Baricco seine LeserInnen in eine verantwortungsvolle, aber auch hoffnungsvolle Freiheit, in der Sicherheit nicht auf einer von zwei Seiten zu finden ist, sondern nur im wachsamen Denken und Tun.