Die Flüchtlingsbewegungen nach Europa verweisen, wie Katja Kipping (s. Nr. 17) eindrucksvoll gezeigt hat, u. a. auf die Ungerechtigkeit unserer Weltwirtschaftsordnung. Fluchtursachen sind aber durchaus vielschichtig und in der Debatte darüber wird mehr und mehr darauf gedrängt, das Problem dort zu bekämpfen, wo es entstanden ist, nämlich in den Kriegsgebieten Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, um nur einige zu nennen. Deshalb lohnt ein Blick auf die geopolitischen Zusammenhänge auch in historischer Perspektive. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten!“. Dieses Sprichwort aus dem Alten Testament trifft ganz besonders auf die westlichen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten seit der Kolonialzeit zu.
Alles begann in den 1950er Jahren. So weit geht Michael Lüders, lange Jahre Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT, zurück und zeigt, wie ausgehend von den Interventionen des Westens, der fanatische Islam, der Terror und die Gewalt des IS entstehen konnten. Es ist eine Abrechnung mit westlicher Politik, „die gerne für sich in Anspruch nimmt, ‚werteorientiert‘ zu handeln, im Nahen und Mittleren Osten aber vielfach verbrannte Erde hinterlassen hat“ (S. 7). Man könne, so der Publizist, die Konflikte der Gegenwart nur verstehen, wenn man sich mit der Einflussnahme westlicher Politik auf die Region seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befasse.
Der Sündenfall schlechthin ereignete sich 1953 mit dem Sturz des ersten demokratisch gewählten Premierministers Mossadegh im Iran. Dessen Politik hatte zum Ziel, die Erdölindustrie zu verstaatlichen (90 Prozent des in Europa gehandelten Öls stammten damals aus dem Iran.) Großbritannien sah sein Monopol auf das iranische Öl bedroht. Deshalb wurde zusammen mit den USA durch einen präzise geplanten Putsch eine erfolgversprechende Demokratie zerschlagen und gegen die Diktatur des Schah-Regimes eingetauscht. „Ohne diesen Putsch gegen Mossadegh hätte es die Islamische Revolution im Iran 1979 nicht gegeben und diese Revolution wiederum im Iran ist Auslöser vieler anderer Probleme, nicht zuletzt des Krieges des Iraks gegen den Iran, den Saddam Hussein entfesselt hat.“ (Interview mit M. Lüders in „titel, thesen, temperamente“ v. 19.7.2015) Dieser Krieg wiederum wurde willentlich von den USA durch Waffenlieferungen und Giftgas aus Deutschland verlängert. Erst als Hussein den „Tabubruch“ beging, die “amerikanische Tankstelle Kuwait” zu überfallen, wendete sich das Blatt gegen ihn.
Afghanistan wurde nach 1979 zu einem Schlachtfeld der Geopolitik: Die USA unterstützen die Taliban und die Mudschahed, weil sie der Sowjetunion ihr Vietnam bescheren wollten. Dass sie damit Islamisten mit Waffen und Knowhow versorgten, war für sie damals zweit-ranging. „Der Heilige Krieg in Afghanistan war im Rückblick der entscheidende Brandbeschleuniger“ einer Entwicklung, die zum Islamischen Staat führte, dessen Wurzeln in Saudi-Arabien, konkret der dort vorherrschenden wahhabitischen Staatsdoktrin liegen. (vgl. S. 27)
Lüders liefert zahlreiche interessante Details und Analysen. So berichtet er beispielsweise von konstruktiven Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban über die Auslieferung Osama bin Ladens. Das änderte sich schlagartig, als amerikanische Cruise Missiles im August 1998 Ausbildungslager bin Ladens in Afghanistan zerstörten. Der Angriff erfolgte am Höhepunkt der Lewinsky-Affäre und die meisten Kommentatoren waren sich einig, dass dieser Angriff als Befreiungsschlag nach innen diente. Die Schlussfolgerung von Lüders: „Hätte Clinton auf die Affäre mit seiner Praktikantin verzichtet, wären den Amerikanern möglicherweise 3.000, den Irakern und Afghanen Hunderttausende tote Zivilisten erspart geblieben.“ (S. 36)
Alles in allem kommt Lüders zum Schluss, dass die Amerikaner die Grundlage für den „Islamischen Staat“ geschaffen haben. Wohl nicht ganz zu Unrecht, denn sie hatten für die politische Zukunft des Irak keinen Plan. Der größte Fehler der USA war, dass sie die Armee, die Geheimdienste und die Baath-Partei aufgelöst haben. Damit waren über Nacht über 100.000 Sunniten arbeitslos, die dann in den Untergrund gegangen sind und sich heute in den Reihen des Islamischen Staates wiederfinden. Die neue Unübersichtlichkeit verlangt, so Lüders, nach Diplomatie, Interkulturalität und Pragmatismus. (vgl. S. 172) Das Klein-klein der Tagespolitik und die Unterteilung der Welt in „gut“ und „böse“ übersieht, dass ein Großteil der Menschen ein Leben in Ohnmacht führt, entrechtet und ohne Chance auf ein selbstbestimmtes, würdevolles Dasein.
Lüders, Michael: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. München: Beck, 2015. 175 S., € 14,95 [D], 15,40 [A] ; ISBN 978-3-40667749-6