Wer beherrscht die Welt?

Ausgabe: 2018 | 1
Wer beherrscht die Welt?

Noam Chomsky über die globalen Verwerfungen der amerikanischen PolitikChomskys „Manufacturing Consent“ von 1988 gilt als Meilenstein der Medienkritik. So gesehen könnte eine Publikation mit dem Titel „Wer beherrscht die Welt?“ Aufschlussreiches zum kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Machtgefüge  im Internetzeitalter enthalten. Orwell, Huxley, Postman („Wir amüsieren uns zu Tode“) – das ist alles länger her, aber brandaktuell. Die elektronischen Medien, Facebook, Twitter und die Eskapaden des 45. Präsidenten, Propagandakanäle wie RT, Al Jazeera und Fox News, Social Media Kampagnen und Social Bots – das schiene doch geradezu aufgelegt. Fehlanzeige.

Das Erscheinungsdatum des amerikanischen Hard Covers in der Endphase des US-Präsidentschaftswahlkampfs ließe zumindest darüber Erhellendes von Noam Chomsky erwarten. Irrtum! Im umfangreichen Register scheinen weder Hillary Clinton noch Bernie Sanders auf.

Selbst zu Trump findet sich nur eine Eintragung – im Zusammenhang mit dem Klimawandel und dessen Negierung durch die Republikaner (S. 311). Die globale Änderung des Klimas und einen (angesichts unzähliger Beinahe-Katastrophen möglicherweise un)absichtlich ausgelöster Atomkrieg, soviel vorweg, sieht Chomsky als größte Bedrohung der menschlichen Existenz. Das Paperback aus dem Mai 2017 enthält zumindest ein Nachwort zur Wahl des 45. US-Präsidenten. Die deutschsprachige Taschenbuchausgabe vom September 2016 verzichtet darauf. Dies, und ein zweitklassiges Lektorat, haben weder der Autor noch sein Publikum verdient. Das Konglomerat von 26 Aufsätzen, gespickt mit unzähligen Fußnoten, enthält keinerlei Information, ob, wann und wo einzelne Essays bereits publiziert wurden.

Die Bewerber um die aktuelle Präsidentschaft kommen darin nicht vor. Ihr Vorgänger dafür umso häufiger. Der „brutale Mörder und Folterer Ronald Reagan“ (S. 50), letzter namhafter Unterstützer des südafrikanischen Apartheid-Regimes (S. 238) der sich – gemäß dem landläufigen, sogar von amerikanischen Linken geteilten Verständnis einer von Gott berufenen Nation – als „Führer ‚einer leuchtenden Stadt auf dem Hügel‘“ bezeichnet (S. 49); Richard Nixon, der 1969, gerade im Amt, verstärkte CIA-Operationen gegen Kuba befahl (S. 150) und den „ersten 11. September“ zu verantworten hat, der in Chile den Diktator Pinochet an die Macht brachte (S. 85); Vater und vor allem Sohn Bush – uneingeschränkter Befürworter eines Präventivkrieges (S. 251), Erfinder des Begriffs „Achse des Bösen“ (S. 180), dessen Foltermethoden „Terroristen produzierten“ (S. 60) – sowieso.

Der Friedensnobelpreisträger und „moralischste Präsident der Welt“ Barack Obama (S. 236) ist Hochrüster (S. 251), Drohnenkrieger (S. 282), Entsender von Tötungskommandos – einer „Privatarmee des Präsidenten“, „inzwischen so groß  wie Kanadas gesamte Armee“ (S.85f.), Verfassungsbrecher (S. 130) mit „gewaltigem Überwachungsprogramm“ (S. 213) und unbarmherziger Verfolger jener, die Skandale aufdecken. „Tatsächlich hat er mehr Whistleblower bestraft als alle Präsidenten vor ihm zusammen.“ (S. 122) Der Autor kritisiert Obama auch als Durchpeitscher von TPP und TTIP, „gewaltigen Handelsabkommen“, bei denen es primär um die Rechte der Investoren geht (S. 214).

Bereits das von Bill Clinton forcierte Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA von 1994 diente dazu, so Chomsky, die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmer zu untergraben (S. 194). In der Tradition US-amerikanischer Grand-Area-Doktrinen habe Clinton unmissverständlich klar gemacht, „die Vereinigten Staaten hätten das Recht, militärische Gewalt einzusetzen, um sich ‚ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategischen Ressourcen zu verschaffen“ (S. 65).

Jedes furchtbare Verbrechen der Feinde der USA kontrastiert Chomsky mit einer in aller Regel längst vergessenen, verschwiegenen, unpublizierten oder heruntergespielten Gräueltat der USA und ihrer Verbündeten: den Abschuss von MH17 über der Ukraine mit jenem des Fluges 655 der Iran Air durch die USS Vincennes – wofür deren Kommandant einen Orden erhielt; und dem eines libyschen Verkehrsflugzeugs, das 1973 von der israelischen Luftwaffe abgeschossen wurde. „Putins gesetzwidrige Übernahme der Krim“ wirke, so Chomsky, verglichen mit der Kuba-Politik der USA, inklusive Besetzung der Guantanamo Bay, „fast schon harmlos“ (S. 277).

Da es seit 14 Jahren „Normalzustand“ sei, „dass Israel jede Woche mehr als zwei palästinensische Kinder tötet“ (S. 224), finde einzig die brutale Ermordung von drei jungen Israelis internationale Beachtung. Dem Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015 stellt Chomsky den Raketenangriff der NATO auf den Sitz des serbischen TV-Senders RTS entgegen, bei dem 16 Journalisten getötet wurden. „Damals gab es keine Demonstrationen, keinen Aufschrei der Empörung, keine Parole ‚Wir sind RTS‘, keine Nachforschungen zu den Wurzeln des Anschlags in der christlichen Kultur und Geschichte.“ (S. 282)

Wer sich für die Rolle der USA – und ihre „Holzhammermethoden“ (S.334f.) – vor allem in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, für das Verhältnis zum Iran, Irak und zu Saudi-Arabien, sowie für die permanente Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch den US-Verbündeten Israel interessiert, findet in diesem Buch viele gut dokumentierte Details.

Reinhard Geiger

 

Bei Amazon kaufenChomsky, Noam: Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik. Berlin: Ullstein, 2017. 416 S., € 12,- [D], 12,40 [A] ; ISBN 978-3548377223