Wenig Zeit für Industrienationen

Ausgabe: 1995 | 2

Das Bild des Grenzgängers, der sich zwischen hochspezialisierten und von einander abgeschotteten Wissensbereichen bewegt und versucht, den Überblick zu wahren und Zusammenhänge herzustellen, verwendet der Physiker Hans-Peter Dürr gerne zur eigenen Charakterisierung. Die im vorliegenden Band gesammelten Aufsätze und Reden sind dann auch als Absage an fragmentiertes Denken und als Forderung nach einem interdisziplinären Dialog zu lesen. Das mechanistische Wissenschaftsverständnis, wie es die westliche Moderne in der Nachfolge von Newton und Descartes entwickelte, seine analytisch-zergliedernde Methodik und sein Drang nach Herrschaft über die Natur wird dabei in ein ursächliches Verhältnis zum derzeitigen ökologischen Dilemma gestellt. Dramatische Engpässe auf der Ressourcen- und weitgehend ungelöste Probleme auf der Entsorgungsseite flankieren eine Entwicklung, weiche den westlichen Industrienationen wohl nur kurz Zeit lassen wird, sich in ihren scheinbaren Siegen zu sonnen.

Eine, wie der Autor meint, fundamentalistische Ideologie, die ausschließlich auf Wachstum der Wirtschaften und der Bedürfnisse setzt und alle sozialen und persönlichen Werte lediglich in Tauschwerte zu übersetzen vermag, hat auch diese "entwickelten" Gesellschaften längst an den Rand des Abgrunds gebracht. Schon allein die Tatsache, daß deren weltweite Reproduktion eine rasante Beschleunigung des Öko-Kollapses hervorrufen würde, mißt dem Diktum vom" Ende der Geschichte" eine geradezu zynische Bedeutung bei. Die Natur, so wird uns nüchtern mitgeteilt, kann auch ohne den Menschen leben, der Mensch aber nur in Kooperation mit seiner natürlichen Mitwelt existieren. Die Konturen einer künftigen Gesellschaft, die sich dieser Tatsache bewußt ist und auch danach handelt werden mit klaren Strichen gezogen: Voraussetzung dafür sind rasche und konkrete politische Maßnahmen, die eine drastische Senkung des Verbrauchs an Primärenergien durch eine Sonderabgabe auf Kohle, Erdöl und Erdgas und eine Dezentralisierung von Produktion, Handel und Gewerbe mittels einer Verteuerung des Transports bewirken. Technologische Innovationen zur effizienteren Energienutzung und steuerliche Entlastungen in anderen Bereichen könnten dabei die finanziellen Belastungen und persönlichen Anforderungen an die einzelnen Bürgerinnen relativ gering halten.

Dem Naturwissenschaftler Hans-Peter Dürr gelingt es in seinen Beiträgen, verschiedene Wissensbereiche fruchtbar zu verknüpfen, Probleme aufzuzeigen, die erst dadurch ins Blickfeld geraten und aus grundsätzlichen Betrachtungen konkrete und praktikable Forderungen abzuleiten. Das immer um Klarheit und Anschaulichkeit bemühte Buch hätte eine erheblich sorgfältigere Edition verdient.

G. S.

Hans-Peter Dürr: Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils. Freiburg (u.a.): Herder, 1995 176 5., DM / sFr 16,80/ ÖS 131,50