Mario Sixtus

Warum an die Zukunft denken?

Ausgabe: 2020 | 3
Warum an die Zukunft denken?

Dass Individuen und Kollektive sich planend und gestaltend darum bemühen, das vor ihnen liegende Kontinuum von Raum und Zeit zu strukturieren, wird gemeinhin als selbstverständlich angenommen. Zukunft indes als „wildes Gedankengestrüpp“, bestenfalls als „Hilfsmittel“ zu verstehen, „das Menschen sich im Laufe ihrer Entwicklung zugelegt haben, um 

ihre Umwelt, ihr Jetzt, besser verändern“ oder auch nur, um „unverbindliche Gedankenhandlungen durchführen zu können“ (S. 20), ist eine eher ungewöhnliche Perspektive. Mario Sixtus, in Berlin lebender Autor und Filmemacher (unter anderem für brand einsARTE und ZDF), spricht gar von „magischer Zukunft“. Diese ist voller Überraschungen und schon deshalb nur bedingt planbar, weil wir nicht zu erkennen vermögen, welche Unwägbarkeiten uns auf den Pfaden des planenden Gestaltens begegnen. 

War dieses Konzept der „magischen Zukunft“ in der Antike noch wirkmächtig – die Kaste der Priester wusste aus der Beschau tierischer Leber sehr wohl auch politisch Einfluss zu nehmen –, so sind die Gesellschaften der Moderne weitgehend dem Prozess progressiver Beschleunigung unterworfen, freilich ohne dies mehrheitlich zu wollen (Der Futurologe Alvin Toffler prägte bereits 1970 den Begriff „Zukunftsschock“). 

Menschen gehen notorisch schlecht mit ihrer eigenen Zukunft um

Tatsächlich spricht einiges dafür, dass sich zumindest Wohlstandsgesellschaften vorrangig den Fortbestand des Gewohnten wünschen. Sixtus verweist auf die „Vermächtnisstudie“ aus dem Jahr 2015, in welcher 3.100 Menschen in Deutschland über ihre Zukunftsvorstellungen befragt wurden . Doch damit nicht genug: „Dass Menschen notorisch schlecht mit ihrer eigenen Zukunft umgehen können“ (S. 60), ist auch physiologisch zu begründen. Wie der Autor mit Verweis auf den Naturwissenschaftler und Psychologen Ernst Pöppel erläutert, ist das menschliche Gehirn in erster Linie ein „Vergangenheitsapparat“, da es neue Inhalte nur in kleinen Häppchen von nicht mehr als drei Sekunden Dauer aufzunehmen vermag und diese dann mit dem bereits Bekannten „verschraubt“ (vgl. S. 61ff.). Pointiert formuliert: „Die Zukunft ist Vergangenheit.“ (S. 64) Komplizierter wird die Angelegenheit noch dadurch, dass unsere Wünsche und Erwartungen wesentlich von chemischen Prozessen abhängen: „Die einzige Zeit, in der Zufriedenheit, Erfüllung, Genuss, Vergnügen oder gar Glück möglich sind, ist das Jetzt. Doch das Wanting verspricht Glück, Zufriedenheit & Co. immer nur für und mit etwas, das gerade nicht da ist.“ (S. 69) 

Es braucht neue Geschichten

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ja, meint Sixtus, wenn es uns gelingt, unseren freien Willen zu kultivieren und zu lernen, neue Geschichten über uns selbst zu erzählen. Wir müssten begreifen, dass es sich lohnt, uns selbst neu zu erfinden, um „in vernünftiger Weise an die Zukunft zu denken“, und dies auf mehreren Ebenen (S. 75). „Vielleicht schaffen wir es, Empathie für diese fremde Person in der Zukunft zu entwickeln, Mitgefühl nach vorne, über die Zeit hinweg?“ (S. 120) Wahrlich keine leichte Aufgabe.