Der Leser dieses Buches wird zu den sogenannten Randbezirken der menschlichen Existenz geführt. Dort leben die Behinderten und die Schwerkranken. Nur zu gern wird diese Tatsache verdrängt. Oliver Tolmein zeigt auf, wie argumentiert wird, um "Euthanasie", das bewußte Beenden beziehungsweise Unterbinden unwerten Lebens zu rechtfertigen. Die Bandbreite reicht von der Behauptung, man wolle das Leiden des Patienten oder des Behinderten verkürzen, bis hin zur brutalen Aussage, ein leistungsunfähiger Mensch habe keinen Wert für die Gesellschaft, er muß also entfernt werden. Die eugenische Dimension beginnt bei der pränatalen Diagnostik: Immer mehr Ärzte raten, ein behindertes Kind abzutreiben. Weiters wird es quasi stillschweigend toleriert, daß stark behindert Geborene nicht behandelt werden, man spricht vom sogenannten „Liegenlassen ". Als Richtlinien hierfür gelten die heftig kritisierten „Einbecker Empfehlungen", in denen minutiös die Kriterien für unwertes Leben aufgeführt sind. Eine extreme Position nimmt hier der australische Moralphilosoph Peter Singer ein, der fordert, daß prinzipiell alle Behinderten getötet werden sollten. Auch an der Euthanasie für Kranke scheiden sich die Geister. Der Autor nimmt u.a. zum Niederländischen Euthanasie-Gesetz sowie zum "Fall" Marion P. (die hirntote Erlangerin wurde künstlich am Leben erhalten, um als "Brutkasten" für ihren 17wöchigen Fetus zu dienen) Stellung. Er zieht moralische Grenzen für die "Halbgötter in Weiß", damit lebensrettende Maßnahmen nicht in pietätlose Experimente ausarten. Als freilich viel zu wenig praktizierte Alternative zur Euthanasie bei sogenannten hoffnungslosen Fällen wird die Palliativmedizin vorgestellt. Diese verzichtet auf die Therapie und beschränkt sich auf die bloße Linderung des Schmerzes, um dem Patienten ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Neben dem engagierten Eintreten für mehr Menschlichkeit in der Leistungsgesellschaft zeichnet sich der Autor auch durch schlüssige Argumentation und sorgfältige Recherche aus. Ch. H.
Tolmein, Oliver: Wann ist der Mensch ein Mensch? Ethik auf Abwegen. München (u.a.): Hanser, 1993. 192S., DM 29,80 / sFr 25,30/ öS 232,40