Neun Essays versammelt Jia Tolentino in diesem Band, alle haben sie eine unterschiedliche thematische Ausrichtung und genau das ist es wohl, warum die Lektüre hauptsächlich positiv rezipiert wird: Nicht alle Beiträge müssen zu einem sprechen, sicherlich tut es aber wenigstens einer und forciert damit – die Idee daraus auf die eigene Lebenswirklichkeit adaptierend – eine gewinnbringende Reflexion des Selbst, so wie es denn mit den immer da seienden Wissens- und Verständnisgrenzen der Gegenwart geht.
Klarheit über alle Unklarheit verschaffen
2019 erschien die englische Originalausgabe von Trick Mirror, nun liegt auch die deutsche Übersetzung vor. Viel gepriesen, wurde Tolentino auch immer wieder eingeladen, um über ihr Schreiben zu sprechen. In diesen Interviews bestätigen sich ihre Intention und die Lesewirkung als übereinstimmend: Jeder Essay gibt einer Idee oder vielmehr einer Frage Raum, über die sich Tolentino Klarheit zu verschaffen sucht, denn: „Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft vertrauenswürdig, intuitiv und klar.“ (S. 13) Lösungsvorschläge präsentiert sie nicht, davon hält sich die Autorin bewusst fern. Wir können vielmehr ihrem Gedankenprozess folgen, nachvollziehen, wie sie sich einer Thematik mittels diverser Zugänge nähert, diese regelrecht einkreist, um die komplexen Bestandteile einer immer schneller werdenden, auf Monetarisierung jedes Teilbereichs ausgerichteten Welt sowie die meist mitspielende Rolle des Individuums darin ein Stück weit besser zu verstehen. Tolentino verdeutlicht gesellschaftliche Dynamiken voller Widersprüche anhand ihrer Biografie, die 1988 beginnt. Roter Faden ist das „inszenierte Ich“, wie es im Untertitel heißt, Mechanismen der Selbsttäuschung im digitalen Zeitalter. Es geht beispielsweise um das Aufwachsen in einem religiösen Setting, um Geschlechterrollen, einen permanenten Optimierungswahn. Ihre Bestrebung Sinnmuster in einem spätkapitalistischen Chaos zu entdecken – in dem alles ausgeschlachtet wird, „nicht mehr nur Güter und Arbeitskraft, sondern auch Persönlichkeit, Beziehungen und Aufmerksamkeit“ (S. 50) – sieht sich durch zahlreiche Stimmen alt- und neubekannter Denker:innen unterfüttert: E. M. Forster taucht etwa in der Bibliografie des Essays „Das Ich im Internet“ auf, ebenso Erving Goffmann und Jenny Odell. Die Seiten, in denen die Autorin stets nach dem Menschlichen in einem unmenschlichen System sucht, wirken wie ruhige Beobachtungsorte, bevor Tolentino und ihre Leser:innen, das beendete Buch in Händen, in der Dualität von Wollen und Müssen, Selbst und Täuschung zurücktreten in eine verwirrende Welt, um an ihr zu partizipieren.
Eine Verschiebung der Sichtweise
Auch wenn es in den Essays keine Antworten zu finden gibt, so provoziert Tolentino mit scharfsinnigen, moralisierenden Überlegungen eine Verschiebung der Weltsicht– ihrer wie die der Leser:innen. Konsequent selbstkritisch bleibt sie dabei bis zum Schluss: „Ich kann das leise, unangenehme Summen der Selbsttäuschung hören, wann immer ich über all dies nachdenke – ein Ton, der nur noch lauter wird, je mehr ich versuche, ihn durchs Schreiben loszuwerden. Ich spüre, wie der tiefsitzende und wiederkehrende Verdacht an mir nagt, dass alles, was ich über mich selbst denken könnte, irgendwie zwangsläufig falsch sein muss.“ (S. 347)