Emmanuel Todd

Traurige Moderne

Ausgabe: 2019 | 2
Traurige Moderne

Einen langfristigen Blick auf die Entwicklung der Menschheit und ihre Zukunft wirft der französische Philosoph Emmanuel Todd. In „Traurige Moderne“ betrachtet er den Zeitraum von der Steinzeit bis in die Zukunft. Sein Clou: Die Typologie der Familienformen ist eine unterschätzte Variable beim Erklären des Verhaltens von Gesellschaften und für die zukünftige Entwicklung.

Das Buch entwickelt eine Typologie von Familienformen. Diese Typen reichen von der „Kernfamilie“ (Ehepaar, Kinder. Diese verlassen das Elternhaus bei der Heirat um unabhängige Haushalte zu gründen) über die „Kernfamilie mit temporärer Koresidenz“ (Ehepaar, bei dem die Kinder nach der Heirat noch einige Zeit leben, ehe sie einen eigenen Haushalt bilden), die „Stammfamilie“ (Ehepaar, der älteste Sohn bleibt als Alleinerbe mit seiner Frau bei den Eltern, es können hier Haushalte mit drei Generationen der Familie entstehen), die „exogame kommunitäre Familie“ (Ehepaar, Vorrang der Söhne, die aber unter sich gleichberechtigt sind) bis hin zu „endogamen kommunitären Familien“ (Ehepaar, Bevorzugung der Söhne, versucht die Kinder von Brüdern untereinander zu verheiraten). Das ist freilich eine verkürzte Darstellung, Todd differenziert viel weiter aus.

Typologie von Familienformen und ihre historische Einordnung

Der nächste Schritt ist der Versuch, diese Typen historisch zuzuordnen. Hier reklamiert Todd für sich einen ersten „Aha“-Effekt. Dem Standard-Modell der Geschichts- und Sozialwissenschaft zufolge solle die Entstehung der Kernfamilie und des „Individuums“ beim Aufstieg der westlichen Welt eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Entwicklung sei aber anders verlaufen. Todd meint, dass vierzig Jahre Erforschung der Familiensysteme ihn zu der Erkenntnis gebracht hätten, dass die ursprüngliche Form der Familie die Kernfamilie war. „Dagegen sind die kommunitären Formen der Familie, in denen das Ehepaar in seine patrilinearen Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden ist und die im Großteil Eurasiens vorherrschen, Schöpfungen der Geschichte. Dass es sie gibt, ist ein Ergebnis von Erfahrungen und Entwicklungen, die sich über fünf Jahrtausende erstreckt haben, eines Prozesses, der in Mesopotamien mit der Geburt der Stadt und der Schrift begann.“ (S. 37f.) Die Entwicklung der Familie ging also vom Einfachen zum Komplexen und nicht umgekehrt. „Die Entdeckung, dass die Familienformen tendenziell komplexer geworden sind, hat noch nicht absehbare Folgen für die Deutung der Menschheitsgeschichte.“ (S. 39)

Nach der Entwicklung der Typologie und der Skizze einer Entwicklung der Familientypen untersucht Todd, wo welche Formen der Familien vorherrschend sind. Er findet alle Formen auf der gegenwärtigen Welt vertreten. Ganz wichtig ist ihm zu betonen, dass diese geographischen Präsenzen nicht mit Staatsgrenzen oder definierten „Nationen“ übereinstimmen. „Da aber ein Familientyp zu mehreren Nationen gehören kann, isoliert dieses Modell keinen von ihnen durch eine besondere Wesenszuschreibung.“ (S. 16) Kurz ein paar Zusammenhänge zwischen Familientypen und Geographie nach Todd: Kernfamilie in England, Zentralfrankreich, Teilen der iberischen Halbinsel; Kernfamilie mit temporärer Koresidenz in Griechenland, Süd-Indien, großen Teilen Asiens, Südfrankreich; kommunitäre Familien und patrilineare Familien im Nahen Osten und in China; patrilineare Stammfamilie in Japan und Teilen Mitteleuropas. Das Ergebnis: der Nahe Osten hat die am höchsten entwickelten Familienformen, das Pariser Becken und England diejenige Form, die dem Urmodell des Homo sapiens am nächsten steht.

Ein kleiner Exkurs zur Stammfamilie: Sie „führt in den Regionen, wo sie verbreitet war und ist, zu einer Selbstwahrnehmung der ansässigen Bevölkerung als verschieden von Anderen und einzigartig. Die Stammfamilie verkörpert in Japan, in Katalonien und dem Baskenland ebenso wie in Deutschland und der alemannischen Schweiz eine autoritäre und inegalitäre soziale Ordnung, mit einer starken Integration der Individuen. Wir finden 2018 in diesen fünf Regionen immer noch dieselben Kompetenzen vor, was Organisation und ökonomische Dynamik betrifft, und dieselbe Neigung zum Ethnozentrismus.“ (S. 16f.) An diesem Exempel zeigt sich, wie Todd aus der Zuordnung von Familientypen Gesellschaftsstrukturen erklärt.

Ausblick in die Zukunft

Das Ideengebäude kulminiert bei einem Ausblick auf die Zukunft. Entscheidend: „Die Ideologie der Globalisierung beruht auf der Annahme von Homogenität. Die kann aber nicht verwirklicht werden. Daher droht diese Ideologie Machtkonflikte auszulösen, die sich durch die Konfrontation verschiedener Wertvorstellungen noch verschärfen. Wenn sich in Europa die anthropologischen Fundamente mit ihren jeweiligen Wertsystemen durchsetzen, ohne dass es die Akteure überhaupt bemerken, dann wird, wie ich glaube gezeigt zu haben, aus der liberalen Demokratie eine inegalitäre Autokratie. (…) Für den Frieden in der Welt ist es dringend notwendig, die Hypothese von der Verschiedenheit der Nationen zu akzeptieren. Sie ist das Ergebnis der Differenzierung von Familiensystemen.“ (S. 481) [Man beachte den Widerspruch zum Argument der Nationalgrenzen überschreitenden Charakter der Familienstrukturen. S. W.]

Todd steht damit fest auf der Seite derjenigen, die argumentieren, dass wir unsere Gesellschaft nicht ändern können, dass wir Ideen besser vergessen sollen, um uns unserem historischen Erbe hinzugeben, es zu akzeptieren, es als Leitlinie zu verstehen. Ob die Ergebnisse der Erforschung der Familienstruktur so klar, ihre chronologische Abfolge so sicher, ihre geographische Zuordnung so eindeutig und die Auswirkung von Migration so erschütternd sind, müsste man als gegeben akzeptieren. Müsste man? Muss man nicht.