Die Polarisierung schreitet voran, die Gesellschaft spaltet sich in einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager, die Einstellungen driften auseinander. Diagnosen dieser Art sind populär, werden von den Medien gerne aufgegriffen und spiegeln sich auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen. Doch stimmen sie auch?
Eine breit angelegte empirische Untersuchung zeigt nun: An der Polarisierungsthese ist nicht viel dran. Das Bild einer gespaltenen Gesellschaft trifft nicht zu. Bei vielen großen gesellschaftlichen Fragen herrscht überraschend breiter Konsens. Dennoch gibt es Konflikte und es wird gestritten, doch die Konfliktlandschaft ist eher zerklüftet und heterogen als polarisiert. Polarisierende Debatten entzünden sich eher an bestimmten neuralgischen Themen, die die Menschen emotionalisieren: an Triggerpunkten.
Intensivierung und Aufladung von Kontroversen
Das sind die Kernaussagen einer empirischen Sozialstudie, für die die Autoren Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser eine umfangreiche Materialbasis zusammengeführt haben. Die Studie basiert auf der Auswertung vorhandener Daten, einer eigenen repräsentativen Umfrage und der Analyse der Debatten in sechs Diskussionsgruppen, die von den Forschern verdeckt beobachtet und analysiert wurden. Dieses spezielle Design der Studie ermöglicht es, differenzierte Schlussfolgerungen zu unterschiedlichen Ebenen der gesellschaftlichen Debatten zu ziehen.
Die Studie ist eine Vermessung und Kartierung des Konfliktraums in Deutschland. Den Kompass bildeten dabei Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit, dies nicht nur im Hinblick auf die Einkommensverteilung, sondern auch auf die Verteilung von Lebenschancen, Rechten und Anerkennung. Um die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Ungleichheit einzufangen, nutzen die Autoren ein Konzept, das schon einmal bei der Untersuchung von Konflikten um Atomanlagen in den 1980er-Jahren verwendet worden ist, das der Konfliktarenen. Blieb das damals irgendwie leblos – vielleicht, weil die Standorte der Anlagen räumlich voneinander getrennt und die Konfliktarenen somit isoliert waren –, ermöglicht dieser Ansatz bei der Untersuchung sich überlagernder gleichzeitiger Konflikte in der Gesellschaft eine sehr differenzierte Analyse und bietet zugleich ein plastisches Bild: die Arena als „Ort des (Wett-)Kampfes vor Zuschauern, das heißt: in der Öffentlichkeit“ (S. 38). Auch die Betrachtung der Konflikte in „vier Arenen der Ungleichheit“ (S. 37) liefert keine Anzeichen einer Polarisierung, zeigt aber „eine Intensivierung und affektive Aufladung von Kontroversen“ (S. 245).
Das Bild der Triggerpunkte
Das führt zu der zentralen Erkenntnis der Studie. Die Frage: Wie kommt es zu diesem großen „Erregungsüberschuss“, der manche Debatten auszeichnet? Wie kommt es, dass bestimmte Themen, manchmal auch nur Begriffe, zu überschießenden Reaktionen führen? Das Gendersternchen zum Beispiel, das Lastenrad oder die Frage eines Tempolimits auf Autobahnen? Die Antwort der Autoren: Solche Begriffe und Themen sind „Triggerpunkte“, sie sind „neuralgische Stellen, an denen besonders aufgeladene Konflikte aktiviert werden“ (S. 27). Es sind „inflammatorische Detailfragen, an denen ein ansonsten vorhandener Grundkonsens zerbricht“ (ebd.). Für die Forscher zeigt dies, „dass es sensible Bereiche des öffentlichen Diskurses gibt, wo Menschen stark und affektiv reagieren“ (ebd.). Das Bild der Triggerpunkte macht dies deutlich; es ist illustrativ und aussagekräftig. In der Physiotherapie sind Triggerpunkte verhärtete Stellen, an denen sich Muskulatur und Gewebe verkrampfen. Übertragen auf gesellschaftliche Konflikte bedeutet das: „Werden Triggerpunkte berührt […] überwiegt die affektive gegenüber der kognitiven Komponente von Einstellungen. Es wird schneller und stärker aus dem Bauch heraus geurteilt – man springt auf etwas an“ (S. 47). Oft waren es bestimmte Wörter, bei denen die Diskussion in Wallung kam.
Der Grund: Menschen zeigten sich getriggert, wenn ihre moralischen Grunderwartungen verletzt würden, lautet die Erklärung der Autoren. Sie unterscheiden vier typische Trigger, die in der Beobachtungsstudie „in einer ganzen Reihe thematisch verschiedener Zusammenhänge für eine Erhitzung der Diskussion sorgten“ (S. 248): Ungleichbehandlung, Verletzung von Normalitätsvorstellungen, ein gefühlter Kontrollverlust, also das Gefühl, dass Entwicklungen sich verselbständigen, und schließlich Verhaltenszumutungen oder veränderte Verhaltenserwartungen, etwa die, weniger Fleisch zu essen. Mit anderen Worten „zeigen sich Menschen getriggert, wann immer spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie verletzt werden“ (ebd.).
Klassenkonflikte im Werden
Diese Erklärung klingt unmittelbar plausibel und lässt sich am Beispiel von Debatten der jüngsten Zeit, etwa der um das Heizungsgesetz, gut nachvollziehen. Mit Mau, Lux und Westheuser beginnt man zu verstehen, was Wutbürger auf die Palme bringt. Das Buch bietet somit reichlich Anstöße zum Nachdenken: über den Charakter von Konflikten und über ihre Entwicklung. Etwa im Hinblick auf den Klimawandel, bei dem es sich um einen „Klassenkonflikt im Werden“ (S. 26) handele, so die These der Autoren. Und darüber, wie Menschen in Veränderungsprozesse eingebunden werden können, gerade die der unteren Schichten: „Die Frage der (gefühlten) Kontrolle über Veränderungen ist für politische Gefühlslagen von größter Bedeutung. Und sie ist nicht zuletzt eine Klassenfrage: Je weiter unten Menschen in der Hierarchie stehen, desto wütender und erschöpfter sind sie – mit Folgen auch für politische Konflikte“ (S. 29).
Das Buch berührt die Grundfragen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es thematisiert Konfliktdynamiken, bevor diese zu Spaltungstendenzen führen. Und es sucht zu verstehen, was Menschen und Konflikte anreizt. Nicht zuletzt ist „Triggerpunkte“ ein Glanzstück empirischer soziologischer Forschung.