Yasheng Huang

The Rise and Fall of the EAST

Ausgabe: 2024 | 4
The Rise and Fall of the EAST

Ein weiterer Band zum unmittelbar bevorstehenden Untergang der Volksrepublik China? Spätestens seit Gordon Changs epochemachendem (und nach wie vor lesenswertem) „The Coming Collapse of China“ kann man mit derart klingenden Titeln Regale füllen. Interessanterweise wächst parallel dazu der Korpus solcher Literatur, die im Gestus der Bedrohung mit ganz konträren Argumentationsstrategien die kommende Weltherrschaft Chinas vorhersagt. Und auch dem reißerischen Untertitel des hier vorliegenden Bandes nach muss das Publikum derartiges befürchten. Doch voreilige Schlussfolgerungen sind hier fehl am Platz. Denn Yasheng Huang, vielbeachteter Wirtschaftsprofessor am Massachusetts Institute for Technology (MIT), erweitert mit der vorliegenden dichten Analyse sein Oeuvre zum Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Reich der Mitte in umsichtiger und tastender Manier.

Die grundlegende und gut 400 Seiten ordnende Idee Huangs lautet, dass das chinesische Volk seit nunmehr 1500 Jahren und bis in die heutige Gegenwart durch das Zusammenspiel von vier Diskursphänomenen geprägt ist, die er unter dem Akronym EAST publikumswirksam zu fassen versucht: Exams (Prüfungen), Autocracy (Autokratie), Stability (Stabilität) und Technology (Technologie). Er argumentiert, dass beginnend mit der Einführung des Beamtenprüfungssystems, bekannt als Keju, durch die Sui-Dynastie im Jahr 587 bis hin zu den Personalmanagementsystemen der gegenwärtigen Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), chinesische Autokratien immer wieder bemerkenswerte Werkzeuge zur Homogenisierung von Ideen, Normen und Praktiken entwickelt haben. Der große und schon zuvor vielbeschriebene und kritisch beurteilte Schwachpunkt dieses rigorosen Dreiklangs: die Unterdrückung von Kreativität.

China zwischen Dynamismus und extremer Stagnation

Yasheng Huang zeigt, wie China nach der Einführung des Keju immer wieder zwischen Dynamismus und extremer Stagnation oszillierte. Demnach lag der Grund für Chinas wohlhabendste Perioden, wie während der Tang-Dynastie (618–907) und unter der reformistischen KPCh (unter Deng Xiaoping) in einer gesunden Balance aus Größe der Bürokratie und Diversität der Ideen.

Unter Xi Jinping sieht Huang nun Anzeichen von „fall“ und „decline“, bedingt durch politische und wirtschaftliche Rückschritte. Demnach stellt die KPCh erneut Konformität über neue Ideen und kehrt zum Keju-Modell zurück, was in der Vergangenheit zu einem technologischen Niedergang führte. Diese Lehre aus Chinas eigener Geschichte sollten die chinesischen Führungskräfte ernst nehmen, argumentiert Huang.

Huang bekennt freimütig, weder von der Warte eines Historikers noch aus Sicht eines Soziologen zu schreiben. Sichtlich wohl fühlt er sich aber in dieser Mittelposition, kombiniert mit Leichtigkeit Daten, Ereignisse und Personen aus der reichen Geschichte Chinas, beherrscht souverän die überbordende Sekundärliteratur, macht das Gegebene aber auch dank der Strukturierung in kurze Abschnitte durchgehend lesbar.

Dabei arbeitet sich Huang durch ein breites Oeuvre von Deutungsangeboten und Diskursphänomenen, das allen Chinabegeisterten neue und erweiterte Perspektiven auf das jeweils beobachtete China eröffnen wird. Alle die, die im Bildungsbereich tätig sind, werden beispielsweise auf die Benutzung von strikt reglementierten Prüfungsmodalitäten als gesellschaftsstabilisierendes Werkzeug hingewiesen. Aus politikwissenschaftlicher Warte wird man besonders gespannt auf Huangs streitbare Einlassungen zur „gesellschaftsfreien“ Gesellschaft Chinas und auf den von ihm eingeführten Begriff des „Tullocks Fluch“ (Tullock’s Curse oder: Warum haben Autokratien ein Nachfolgeproblem?) sowie dessen chinaspezifische Interpretationen reagieren. Historiker:innen lesen mit Gewinn Huangs Ausführungen zur viel diskutierten Needham Frage: Warum hat die moderne Wissenschaft, obwohl sie in der antiken und mittelalterlichen Welt in vielen Zivilisationen unabhängig entdeckt wurde, sich ausschließlich in Europa (und eben nicht in China) ab dem 16. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit so stark entwickelt? Am meisten empfehle ich das letzte Kapitel V, in dem Huang aus subjektiver Warte eine Analyse des gegenwärtigen Chinas liefert und einen potenziellen Ausblick in die Zukunft (mit oder ohne Xi Jinping?) wagt.

Eine lohnende Lektüre für Expert:innen

Ein dichtes Buch für Expert:innen, dessen langsame und bedächtige Lektüre sich auch dank der immer wieder aufschlussreichen Ausblicke in die reichhaltigen Fußnoten lohnt.