Amia Srinivasan ist Professorin für Soziale und Politische Theorie am All Souls College in Oxford. In The Right to Sex analysiert sie gesellschaftliche Denk- und Handlungsweisen zum Thema Sex. Zunächst steht das Wort im Englischen für das biologische Geschlecht (sex), welches es vom kulturellen Geschlecht (gender) zu unterscheiden gilt. Mit der Zuweisung von Babys zu einem der beiden akzeptierten Geschlechter entpuppt sich allerdings auch das biologische Geschlecht bereits als ein kulturelles, verkleidet als natürliche Gegebenheit.
Die Bedeutung von Sex als Geschlechtsakt eröffnet ein weiteres Feld, in dem nun diese geschlechtsspezifischen Körper auf andere treffen: manche von ihnen sind für den Genuss, den Besitz, die Konsumation, die Bedienung, die Bestätigung anderer Körper vorgesehen. Auch hier gilt: Sex sei eine natürliche Sache. Vermeintlich privat, ist Sex im Gegenteil eine sehr öffentliche Angelegenheit. Ein Brennpunkt, an dem Lust und Ethik weit auseinander liegen können. Persönliche Vorlieben sind von außen geformt, unsere Rollen – wie wir empfinden, wer gibt, wer nimmt, wer will und wer gewollt wird, wer leidet und wer profitiert – werden bereits vor unserer Geburt festgelegt. Mit Blick auf eine mögliche, bessere Welt muss, so Srinivasan, Sex als politisches Phänomen gedacht werden. Dabei greift sie auf eine ältere Tradition des Feminismus zurück, den Frauen wie Simone de Beauvoir, bell hooks, Audre Lorde, Alexandra Kollontai, Catharine McKinnon vorangetrieben haben. Während sich im Zuge der #Metoo-Debatte viele Stimmen auf die Notwendigkeit und Bedeutsamkeit von „Zustimmung“ beriefen, zwingt diese feministische Tradition, zu fragen, was hinter dem „Ja“ einer Frau liegt, und was es über Sex generell aussagt, wenn dieser etwas ist, zu dem man seine Zustimmung geben muss. Wie konnte es dazu kommen, dass wir so viel psychisches, kulturelles und rechtliches Gewicht auf diesen Begriff legen, das er gar nicht zu tragen vermag?
Strukturen erneut hinterfragen
Srinivasan fordert dazu auf, die schwierigen Beziehungen zwischen Vorlieben und Diskriminierung, Pornografie und Freiheit, Bestrafung und Verantwortlichkeit, Vergnügen und Macht, Kapitalismus und Befreiung von neuem zu hinterfragen. Die vorliegenden sechs Essays sind zudem der Versuch, die politische Kritik an Sex für das 21. Jahrhundert neu zu formulieren und dabei die komplexen Verbindungen von Sex zu Rasse, zu Behinderung, zu Nationalität und zu Kaste ernstzunehmen.
In „Die Verschwörung gegen Männer“ deckt Srinivasan anschaulich auf, wie tief das Ungleichheitsempfinden im Denken verankert ist, wenn beispielsweise ein Vater die Strafe für seinen Sohn, der eine junge Frau vergewaltigt hat, als völlig übertrieben betrachtet, und den Verlust des leichten Lebens dieses guten amerikanischen Jungen beklagt, ohne ein Wort über das Leid des Mädchens zu verlieren. Der Aufruf „Believe Women“ stößt bei vielen Männern ebenso auf Widerstand: Warum sollte Frauen mehr geglaubt werden – gilt denn nicht die Unschuldsvermutung? Aber es geht nicht darum, Männer unrechtmäßig anzuklagen, sondern darum, den Schuldigen nicht unrechtmäßig freizusprechen, wenn nämlich, was leider oft der Fall ist, das Gericht den Frauen nicht glaubt. Es ist lediglich eine Aufforderung, den Fakten zu folgen. Aber trotz allem führt „Believe Women“ nicht zur großen Veränderung, denn implizit sagt es: „Glaube ihm nicht“, und diese Logik, nach der er lügt und sie die Wahrheit sagt, stellt bei der Behandlung von Vergewaltigungsvorwürfen allein Geschlechtsunterschiede in den Vordergrund. Wenn aber andere Faktoren wie Rasse, Klasse, Religion, Immigration, Status, Sexualität ins Spiel kommen, ist alles andere als klar, wem wir epistemische Solidarität schulden.
Schwarze Männer werden viel häufiger mit der Anschuldigung konfrontiert, gewalttätig gegenüber weißen Frauen zu sein. Gleichzeitig werden Schwarze Frauen als hypersexuell und promiskuitiv wahrgenommen – was sie in der allgemeinen Meinung „unrapeable“ macht, sie also noch mehr dem Schutz der Gesellschaft und des Staates entzieht. Warum verletzten weiße Männer die Norm, wenn sie vergewaltigen, Schwarze aber erfüllen diese? Und wenn Schwarze Männer Monster sind, was macht das mit Schwarzen Frauen? Sie sind doppelt benachteiligt: ihrer Anklage wird a priori nicht geglaubt, und sie werden leichter Opfer von Gewalt.
Schonungslose Betrachtungen
Weitere Essays thematisieren, was sich durch das Internet verändert hat, und was es bedeutet, sich bei den Problemen von Sex auf die Macht des kapitalistischen Staates mit einer regen Gefängnispolitik zu berufen. Amia Srinivasan verschreibt sich einem Feminismus, der schonungslos die Wahrheit sagt, auch über sich selbst. Der nicht dem Wunsch nach übereinstimmenden Interessen nachgibt, und bereit ist, die Politik als unbequem auszuhalten. So sind ihre Aussagen unnachgiebig, wenn es um die Rechte von Sexarbeiter:innen oder die Zerstörungskraft von Gefängnispolitik geht, bleiben aber in anderen Punkten (wie der Pornografie) ambivalent, um deren Komplexität und Dichte nicht zu reduzieren.