Mythen kondensieren eine komplexe Welt zu einer nachvollziehbaren Geschichte. Der Mythos Shenzhen veranschaulicht dementsprechend Chinas wundersamen Aufstieg zur größten Wirtschaftsmacht der Welt. Die Erzählung von der rasanten Entwicklung eines „kleinen Fischerdorfs“ zum neuen Silicon Valley scheint dabei zu gut um wahr zu sein, hat sich aber bereits fest im kulturellen Gedächtnis der Volksrepublik eingebrannt. Zwei inhaltlich und methodisch differente Bücher nähern sich nun der chinesischen Millionenstadt am Perlflussdelta auf ihre jeweils eigene Weise. Shenzhen wurde im Rahmen der Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping nach 1979 zu einer von Chinas ersten Sonderwirtschaftszonen ernannt. Dem Namen nach („tiefer Graben“) trägt es sein landwirtschaftliches Erbe stets mit sich, doch egal ob Technik, Wirtschaftskraft oder Bevölkerungsentwicklung, Shenzhen hat sich längst zu einer der dynamischsten Städte der Welt entwickelt. Folglich wird die Metropole im westlichen Diskurs nachvollziehbar als progressiv, postmodern oder tentativ geschichtslos gesehen. Ihr Erfolg, so die gängige Meinung, lässt sich am ehesten in einem theoretischen und praktischen Spannungsfeld von zentraler politischer Planung und individueller ökonomischer Freiheit analysieren – und gegebenenfalls imitieren. Genau diesen Diskurslinien geht Frank Sieren in seinem jüngsten Buch Shenzhen. Zukunft Made in China (2021) in eloquenter Weise nach.
Die Megacity als Zukunftswiege
Sieren, mit bald dreißig Jahren Chinaerfahrung einer der profiliertesten Erklärer des Reichs der Mitte, beantwortete bereits in einem früher erschienenen Buch die selbstgestellte Frage nach einer wie auch immer gearteten Zukunft mit „China!“. Damit ist er zugleich Rezipient und Produzent eines global vorherrschenden Diskurses, der eine ökonomische, politische und militärische Machtverschiebung von West nach Ost beobachten will. Stringent präzisiert er in seiner nun vorliegenden Publikation und macht fokussierend eine einzelne Stadt als Zukunftswiege aus. In acht Kapiteln macht er Lust auf diese in Deutschland doch noch recht unbekannte Megacity. Sieren schreibt schnell und schmissig, ein echter page turner. Leicht und flott, aber nie ohne Zahlen, Daten und Fakten, lesen wir so zum Beispiel über den Konflikt von gesteuerter Stadtentwicklung und freier Subkultur, von den Chancen und Risiken des autonomen Fahrens für die deutsche Automobilindustrie oder den Verflechtungen des Tech-Riesen Huawei innerhalb des politischen Spiels zwischen China und den USA. Das alles und noch viel mehr schildert, analysiert und wertet Sieren durch das Prisma Shenzhen, ohne dabei das deutsche Publikum aus dem Auge zu verlieren. Denn en passant im Verlaufe des Buchs aber besonders im engagiert verfassten „Ausblick“ (S. 402ff.) offeriert Sieren ein besorgtes Resümee. So ermahnt er Europa allgemein und Deutschland besonders zu mehr Mut und Neugierde angesichts neuer Herausforderungen, aber auch zu mehr Demut und Respekt vor dem Hintergrund sich verschiebender geopolitischer Machtverhältnisse. Ein beherztes Sachbuch, das sich nicht mit Fußnoten oder Bibliografie belastet, dem man vielmehr immer wieder die Freude anmerkt, mit der es „manchmal auch am Rande des Fußballplatzes“ (S. 413) in die Tasten getippt wurde. Gerade deshalb jedoch sei es mit großem Nachdruck jedem als motivierender Einstieg in diese faszinierende Stadt empfohlen.
Die Mythen um Shenzhen entlarven
Wo uns Sieren in die Zukunft gerichtet das schnelle Lesen lehrt, lernt man durch Juan Dus historische Linse das langsame Lesen. Du arbeitet an der University of Toronto, wo sie sich besonders mit den Themen Stadtentwicklung und Urbanisierung beschäftigt. The Shenzhen Experiment (2020) macht es sich zur Aufgabe, einige – auch von Sieren recht unkritisch verfolgte – Narrative über Shenzhen zu problematisieren und gegebenenfalls als propagandistisch-simplifizierend zu entlarven. Dabei etabliert sie vier Fehlvorstellungen, die sich um den „Mythos Shenzhen“ ranken: 1. Die lokal begrenzte Sonderwirtschaftszone Shenzhen wurde mit der dezidierten Absicht ins Leben gerufen, ganz China wohlhabend und reich zu machen. 2. Shenzhen in seiner heutigen Erscheinung ist eine aus dem nichts geschaffene Stadt ohne relevante Vorgeschichte. 3. Shenzhen erlebte innerhalb kürzester Zeit eine Bevölkerungsexplosion von 30.000 auf 20 Millionen. 4. Shenzhen hat sich von einem „Fischerdorf“ zu „Chinas Silicon Valley“ entwickelt. Das durch diese Orientierungspunkte aufgespannte Feld durchleuchtet Du mithilfe von Zeitzeugeninterviews und Auswertung von Sekundärliteratur. Damit lässt sich ihre von der Harvard University Press in bewundernswert hoher Qualität produzierte Arbeit als willkommene kontrastive Ergänzung zu Sieren lesen. Zwei Bücher, die sich im Frühling eine jede Person gönnen sollte, die sich für Chinas Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft interessiert.