Tyson Yunkaporta

Sand Talk

Ausgabe: 2022 | 1
Sand Talk

Der Dozent und Künstler Tyson Yunkaporta ist Angehöriger des australischen Apalech Clans und forscht zu Indigenem Wissen, den Sprachen der Aborigines und der Überlieferung von Naturkatastrophen. Bei seiner Suche erkannte er, „dass es nicht die Welt der Gegenstände war, die uns erdete und erhielt, sondern die Art zu denken“ (S. 14). Mit dem Buch Sand Talk teilt er die Worte und Bilder mit uns, die er für die Indigenen Muster des Denkens, des Seins und des Tuns, die für gewöhnlich unsichtbar sind, gefunden hat.

Jemand, der sowohl über Einblick in Indigenes Wissen verfügt als auch in die Probleme der zivilisierten Welt, kann hybride Einsichten anbieten. Doch der Autor möchte weder als Vorbild noch als Experte wahrgenommen werden. Er stellt sich der „Authentizitätsanforderung“ entgegen, die eine ununterbrochene kulturelle

Tradition imaginiert. Diese existiert in der Realität nicht. Vielmehr gilt es, sich der wahren Begebenheiten der Kolonisation und Besetzung, der Vertreibung und gewaltsamen Assimilierungsprogramme bewusst zu bleiben und das vielschichtige Kaleidoskop Indigener Kulturen nicht zu verzerren. Yunkaporta findet einen Weg, das Indigene Wissen nicht zu simplifizieren oder zu kategorisieren. Stattdessen erzählt er von Mustern, die er aus seiner kulturellen Praxis kennt und die sich in seinen vielfältigen Verbindungen mit anderen Aborigine-Gemeinschaften entwickelt haben. „Ich berichte nicht für ein weltweites Publikum über Indigene Wissenssysteme. Ich untersuche weltweite Systeme aus der Perspektive Indigenen Wissens.“ (S. 20)

Damit grenzt sich das Buch ab von einem zu einfachen und folgenlosen Umgang mit Indigenem Wissen. Oft werden die „Ersten Völker“ und ihre nachhaltige, landverbundene Lebensweise zwar herangezogen, um Lösungen zu suchen, diese bleiben aber auf die Vergangenheit bezogen. Mit einem „Denken in Mustern“ (S. 24) begegnet Yunkaporta heutigen globalen Nachhaltigkeitsfragen und kritisiert damit gegenwärtige Systeme. Am Muster des Urknalls wird deutlich, was gemeint ist: dieser Anfang, das Bild eines Steins im Zentrum von Ort und Geschichte, ist nicht nur im Universum zu finden, sondern wiederholt sich unendlich und andauernd in all dessen Teilen.  Ein Stein im Zentrum ist ein Muster, auf das sich viele Schöpfungsgeschichten beziehen, und das sich bis in die Quantenebene reflektiert findet. „In dieser Form des Wissens gibt es keinen Unterschied zwischen einem selbst, einem Stein, einem Baum oder einer Verkehrsampel. All diese Elemente enthalten Wissen, Erzählung, Muster.“ (S. 35)

Die Kapitel sind entsprechend mündlicher Überlieferung aufgebaut, den sogenannten Yarns. Diese Unterhaltungen mit verschiedenen Menschen, die nicht immer einer Meinung sind, erweitern die Perspektive, erzeugen Wissen und geben es weiter. Die sich ergebenden Ideen hat Yunkaporta zuerst in traditionelle Objekte geschnitzt, und – um die mündliche Perspektive möglichst wenig zu verzerren – sie erst danach in geschriebene Worte übertragen. Außerdem sehen wir in jedem Kapitel das Abbild eines Sand Talks, ein Brauch, bei dem zur Weitergabe von Wissen Bilder auf den Boden gezeichnet werden.

Die Ältesten der Aborigines Australiens erzählen in vielen Geschichten, wie wichtig es ist, nie das Land zu vergessen und immer in Bewegung zu bleiben: „Wenn du dich nicht mit dem Land bewegst, wird das Land dich bewegen.“ (S. 8) Sehr lange Zeit haben sich die Menschen in vielschichtigen, landverbundenen Kulturen entwickelt, sodass unser Gehirn eine Kapazität für über hundert Milliarden Nervenverbindungen ausgebildet hat. Davon benutzen wir heute nur einen Bruchteil. Zu glauben, vor den großen Erzählungen von Fortschritt und Zivilisation wäre das menschliche Leben hart und primitiv gewesen, ist mit dieser Einsicht nicht haltbar. Dagegen haben Zivilisationen, die nicht nachhaltig agieren, nie lange Bestand gehabt.

Offen werden für Prozesse des Wandels

Westliches Denken ist heute von Geschichten geprägt, die einen Kampf zwischen Gut und Böse inszenieren. Was dahinter steckt, ist das Verlangen, der Komplexität der Schöpfung Einfachheit und Ordnung aufzuzwingen. Den Ursprung dieses Verlangens verortet Yunkaporta in einem neu entstandenen Ungleichgewicht, das den Narzissmus nicht mehr in Schach zu halten vermochte und so das komplexe, aber ausgewogene Schöpfungsmuster, das überall im Universum wirkt, zu infizieren. Zum Narzissmus kennen die Aborigines viele Geschichten, unter anderen die des Emu, der die Vorrangstellung aller Spezies beanspruchte und damit die zerstörerische Vorstellung in die Welt brachte: „Ich bin besser als du, du bist weniger wert als ich“ (S. 37). Als Hüter sind wir Menschen verantwortlich, zur Schöpfung beizutragen. Mit den vier Verhaltensregeln „verbinden, diversifizieren, interagieren und adaptieren“ (S. 102) können wir zu Nachhaltigkeitsakteuren werden, die offen werden für Wandel und kreative Ereignisse möglich machen.

Das Buch geht, wie das Denken der Aborigines, über seinen Inhalt hinaus. Entsprechend dem Muster der Schöpfung schlägt es ins westliche Denken ein und schafft eine Raum-Zeit, die ungeahnte Lösungen, Verknüpfungen und kreatives Potenzial ermöglicht.