Editorial 1992/1:
Eine entscheidende Erkenntnis, die aus den zeithistorischen Ereignissen der letzten fünf Jahre gezogen werden kann: die früher überschätzte und in der jüngeren Vergangenheit eher unterschätzte Rolle einzelner Persönlichkeiten ist unübersehbar. Ohne Walesa wäre der Umsturz in Polen nicht in diesem Tempo vorangetrieben worden, ohne Gorbatschow lässt sich der gewaltige Wandel im kommunistischen Machtbereich nicht erklären.
Ist das Schlagwort „Männer machen Geschichte" auch auf die mittel- und längerfristige Entwicklung übertragbar? Oder sind die einflussreichen Beweger nur kurz auftauchende, spektakulär auftretende, aber dann schnell verlöschende Zündfunken, die schnell wieder verglimmen? Wer sich mit dem Auftreten der großen „Beweger“ beschäftigt, muss konstatieren, dass sie zwar ein deutliches und überdurchschnittliches Gespür für gegenwärtige Missstände besessen, aber nur selten über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren hinausgeblickt haben. Sie haben zur Zerschlagung bestehender Strukturen aufgefordert, aber nur selten Konkreteres über das ausgesagt, was aus den Trümmern der brüchig oder gar unerträglich gewordenen alten Ordnung entstehen sollte. Wo das dennoch geschah, waren die vorgestellten Entwürfe meist so vage, dass pathetische Allgemeinheiten wie „tausendjähriges Reich“ oder „kommunistische Gesellschaftsordnung“ dann keinen brauchbaren Rahmen für weiteres Denken und Handeln abgaben.
Ich meine, dass dieses Versagen auf einen grundlegenden Mangel in unserer Erziehung und der von ihr beeinflussten Denkweise zurückzuführen ist, unter der wir alle leiden: Schüler werden nicht zukunftsfähig gemacht. Es wird ihnen nicht beigebracht, die Folgen gegenwärtiger Entscheidungen und kurzatmigen Handelns durchzuspielen. Sie werden nicht instande gesetzt, viele verschiedenartige Möglichkeiten zu bedenken und mit Hilfe einer aktiven Phantasie zu entwickeln. Es wäre daher von größter Wichtigkeit, in einer grundlegenden Reform der Schul- und Erwachsenenbildung Persönlichkeiten heranzubilden, die nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten denken können. Im „Zukunftsunterricht“, der neben den Geschichtsunterricht treten sollte, müssten sowohl die dunklen wie die hellen Möglichkeiten dargestellt und debattiert werden, müsste z. B. an Hand von irrtümlichen Zukunftsvorstellungen vergangener Zeiten überlegt werden, wie solche Fehler vermieden werden könnten, sollten die Wirkungen „sich selbst erfüllender Prognosen“ studiert werden, müsste vor allem deutlich gemacht werden, dass es keine „sichere Zukunft“ geben kann und der konstruktive Umgang mit überraschenden Herausforderungen daher zum geistigen Rüstzeug möglichst vieler Menschen an dieser Jahrtausendwende gehören sollte.
Es ist wichtig, dass „Zukunftsfähigkeit" nicht das Privileg weniger, besonders begabter Menschen bleibt – eben der großen Anreger und möglichen Verführer –, sondern in der Bevölkerung eine breite Grundlage erhält, damit Irrtümer und Fehlspekulationen der „großen Männer“ rechtzeitig erkannt und korrigiert werden können.
Vielleicht wäre es eine neue Aufgabe der Frauenbewegung, eine solche Entwicklungstendenz besonders zu fördern, denn die größere weibliche Sensibilität prädestiniert das „andere Geschlecht“ zu einer neuen zukunftsweisenden und zukunftserhaltenden Rolle. In einer hochinteressanten Studie, die im Spätfrühjahr 1992 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, versucht der Amerikaner Robert Kenny in Zusammenarbeit mit dem „International Center for Integrative Studies“ (121 Avenue of the Americas, New York City) die These zu begründen, dass zukunftsbewusste Gruppen – also nicht länger nur hervorragende Einzelne – entscheidende Einflüsse auf das Schicksal der Menschheit ausüben können. Ausgehend von den Arbeiten des Neurophysiologen Pribram, des Physikers David Bohm und des englischen Psychologen Rupert Sheldrake wirft er die Frage auf, ob es ein fortgeschrittenes Gruppenbewusstsein geben könnte, und wie sich die Existenz eines solchen erweiterten Bewusstseins auf das Verstehen der Menschen untereinander, den Erfolg gemeinsamer Zielsetzungen, die Entwicklung von Gemeinschaften sich gegenseitig verstärkender Persönlichkeiten auswirken könnte.
Ich habe in den letzten Jahren immer öfter die Meinung gehört, dass bereits jetzt über die ganze Erde verstreut ein lockeres „Netz von Lebensrettern“ am Werke sei, das die Krise unserer Zivilisation für den „Aufstieg zu einer neuen Zivilisation“ nutzt. Eine solche Hypothese klingt nicht unwahrscheinlich. Je mehr „zukunftsfähige Persönlichkeiten“ Einfluss gewinnen, desto begründeter erscheint die Hoffnung, dass wir noch einmal davonkommen werden.