Editorial 2/1990
Selten hat mich ein Buch so stark beeindruckt wie Ernst Ulrich von Weizsäckers Plädoyer für eine „ökologische Realpolitik an der Schwelle des Jahrhunderts der Umwelt“, das im Vorjahr unter dem Titel „Erdpolitik“ erschienen ist. Denn hier wird in einem bisher von Wissenschaftlern kaum gewagten umfassenden Überblick ein Realismus vertreten, der zwar Sachzwänge kennt, sich aber durch sie nicht am schöpferischen Weiterdenken hindern lässt. Eine Politik für die ganze Erde müsse zwar pragmatisch sein, konzediert der Autor, sie müsse aber auch „eine Vision enthalten“, weil nur durch sie „die Orientierungslosigkeit der heutigen Realpolitik überwunden werden kann“. Solche Worte aus dem Mund eines eher konservativ geprägten Gelehrten, der als Biologe den Gesetzen des Lebens eher verpflichtet ist als phantastischen Geistesflügen, wiegen gerade jetzt viel, da Begriffe wie Utopie und Vision als irreführende, ja als gefährliche Wegweiser in die Zukunft verketzert werden. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat überzeugend gezeigt, welche Bedeutung neue geistige Konzepte bei den in Krisenzeiten notwendigen grundlegenden Veränderungen des Forschens und Handelns erlangen. Ökologisches und globales Denken, dem sich kurzsichtiges und enges ökonomisches sowie politisches Tun unterordnen muss, wird im künftigen Zeitalter einer lebenserhaltenden Erdpolitik nicht nur die Ressourcen der Natur, sondern ganz besonders die in die Natur eingebundene, aber über sie hinausweisende „Ressource Mensch“ verstärkt berücksichtigen müssen. Denn die Spezies Mensch verfügt durch ihre Fähigkeiten der kritischen Beobachtung, der auswertenden Kritik und vor allem der konzipierenden Phantasie über jene einzigartige Problemlösungsgabe, die in Zeiten scheinbarer Auswegslosigkeit immer wieder hoffnungsverheißende Konzepte findet, eben jene „Visionen“, die von den Kleinmütigen als unsinnige Hirngespinste verworfen werden. Weizsäcker hat sicherlich recht, wenn er meint, dass der Aufbau einer erdpolitischen Vision „das Werk einer ganzen Generation von Menschen“ sein werde. An einer solchen Aufgabe werden sicherlich die Menschen in der sogenannten „Dritten Welt“ stärker als bisher mitarbeiten. Denn nur wenn sie darauf verzichten, die kurzfristig erfolgreiche, langfristig aber untragbare Wirtschaftspolitik der Industrienationen nachzuahmen, wird es möglich sein, die Lebensgrundlagen für die zu erwartenden sechs, zehn und schließlich wohl fünfzehn Milliarden Menschen auf dieser Erde zu schaffen. Aber nicht nur durch Verzicht, sondern durch eigene aus jahrtausendealter Erfahrung entspringende und mit modernem Denken verbundene Ideen werden die im zu Ende gehenden Jahrhundert so wenig Einflussreichen Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas Beiträge leisten können. Im Zeitalter der Erdpolitik müssen schöpferische Geister aller Regionen des Globus mitdenken und mitbestimmen. „Erdpolitik“ ist eine faszinierende interkontinentale Zukunftsaufgabe, die viel Getrenntes und Feindliches vereinigen könnte.