Niall Kishtainy

Niall Kishtainy: The Infinite City

Ausgabe: 2024 | 3

Utopien sind Bilder von sozialen Wunschvorstellungen. Durch die Beschreibung dieser besseren Orte wird die bestehende soziale Ordnung kritisiert und ein Plan entworfen, wie man über die Schwächen, Leiden und Fehlkonstruktionen der Gegenwart hinwegkommt. Indem Utopien sich von der Realität abgrenzen, beziehen sie sich doch wieder auf sie. Und London als Stadt der extremen sozialen Gegensätze, des Chaos, aber auch als Ort der permanenten Erneuerung war immer wieder Ausgangspunkt neuer Utopien.

Eine Stadtwanderung durch London

Niall Kishtainy wandert mit uns durch das London vieler Jahrhunderte und stellt uns utopische Denker:innen in ihren Stadtteilen vor und erzählt, welche Ideen sie zur Geschichte der Utopien beigetragen haben. Freilich treffen wir Thomas More, der im 16. Jahrhundert seinen Roman „Utopia“ in London schrieb. Utopia, eine Insel, die so ganz anders organisiert war als das Europa des 16. Jahrhunderts.

Wir treffen aber auch auf weniger bekannte Schriftsteller:innen. Gerrard Winstanley wurde 1609 in Wigan geboren, 1630 ist er Schneider in London und beginnt, sich gesellschaftlich zu organisieren. Er wird zu einem Vordenker der „Digger“, einer Gruppe von Menschen, die ganz anders leben wollten. In einer Vision Gottes, so gibt Winstanley an, wird ihm eröffnet, dass die Menschen anders zusammenleben sollten. „Worke together, Eat bread together; declare this all abroad“ (S. 68), so die Eingabe. Drei Türen der Hoffnung für ein besseres Leben solle man durchschreiten, schreibt der inspirierte Winstanley in der Folge. Nach Durchschreiten der ersten Tür werde man erkennen, dass priesterliche Macht böse sei und überwunden werden müsse. Nach der zweiten Tür, dass die Erde ein gemeinsamer Schatz sei, den man gemeinsam bearbeiten soll und dass diese den Menschen gemeinsam gehören solle. Hinter der dritten Tür erkenne man, dass die Herrschaft der Menschen übereinander überwunden gehöre. „Leave off dominion and Lordship one over another, for the whole bulk of man-kinde are but one living earth“ (S. 69). Es gab einen gravierenden Unterschied zwischen Winstanley und More: Winstanley wollte die Utopie sofort umsetzen.

In dem Buch erfahren wir auch mehr über Thomas Spence. Er war nicht der Organisator einer anderen Welt, er war der etwas schräge, rebellische Einzelgänger, der versuchte, die Londoner aufzurütteln. Spence prägte beispielsweise rebellische und radikale Slogans auf Münzen, die im Umlauf waren, um radikale Ideen unter die Leute zu bringen. „Spensonia“ war ein Märchenland, in dem Frieden und Gleichheit herrschten und die natürlichen Rechte der Menschen von allen akzeptiert wurden. Diese bessere Welt entstehe durch den Aufbruch zu neuen Ufern, eine mystische Geschichte erzählt von einer Seefahrt, an deren Ende man neues Land gerecht aufteile und dort in Gleichheit zusammenleben werde.

An dieser Stelle soll noch Robert Wedderburn erwähnt werden. Wedderburn war der Sohn einer jamaikanischen Sklavin und deren schottischem Besitzer, der eine Zuckerplantage betrieb. Robert Wedderburns Mutter wurde verkauft, als sie mit ihm schwanger war, aber es wurde in diesem Fall auch erreicht, dass Robert frei geboren wurde. 1817 begann Wedderburn eine Zeitschrift zu publizieren, die „The Axe Laid to the Root“ hieß. Zu den Ideen von Spence fügte er die Erfahrung der Sklaverei hinzu. Die Geschichte der Utopien aus London endet nicht mit Wedderburn. Der eine oder die andere Leser:in kennt Robert Owen, den Industriellen, der gerechte und friedliche industrielle Produktionsbedingungen erschaffen wollte. Anna Wheeler fügte feministische Perspektiven hinzu und brachte gleichzeitig Anregungen von Henri de Saint-Simon, dem Frühsozialisten, mit aus Frankreich in die Londoner Zirkel der utopischen Debatte.

Utopische Ideen bis zur Gegenwart

Kishtainy zieht die Linien bis zur Gegenwart und fragt, welche utopischen Ideen heute in London präsent sind. Er erzählt unter anderem von Initiativen wie „Reclaim the Streets“, die neue Ideen der Nutzung des öffentlichen Raums aussprechen. Und er berichtet von den Gedanken die sich Denker:innen wie Ruth Levitas heute über Utopien machen. Levitas spricht sich für eine „utopische Archäologie“ aus, die Suche nach utopischen Ideen, die wir heute hinter Erzählungen, politischen Bewegungen aber auch städtebaulichen Ergebnissen finden können. Und Levitas spricht von „utopischer Architektur“. Das greift der Autor auf. Die Geschichte der Utopien, von der viele Kapitel in London geschrieben wurden, lehrt Kishtainy einiges an Grundsätzlichem für diese Art des Denkens: „Utopia is not the pursuit of fixed perfection, which is neither an attainable nor a desirable ideal. Levitas’s notion of ‚utopian architecture‘, the term perhaps suggestive of a rigid blueprint, in fact employs a notion of architecture that is improvisatory and flexible, and therefore suitable as a metaphor for utopia as a method rather than a quest for a final destination“ (S. 273).