Ein neuer Maßstab: Zukunftstauglichkeit

Ausgabe: 1991 | 4
Ein neuer Maßstab: Zukunftstauglichkeit

Editorial 4/1991

Sind wir zu dumm? Sind wir zu faul? Sind wir zu machtlos? Woran liegt es eigentlich, dass alle begründeten Warnungen und leidenschaftlichen Mahnungen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen anscheinend nicht verhindern, ja nicht einmal aufhalten können? Diese Fragen werden einige Monate vor der großen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Brasilien immer lauter. Es mehren sich die Bemühungen, endlich den Weg vom Reden und Schreiben zum Handeln zu finden endlich messbare, greifbare Erfolge auf dem langen Wege zu einer besseren Zukunft konstatieren zu können. Immer deutlicher wird es, dass kleine oder sogar größere Korrekturen und Reparaturen an der seit über einem Jahrhundert auf immer schnelleren Touren, mit immer größeren Wirkungsgraden laufenden Fortschrittsmaschinerie nur wenig erreichen. Notwendig wäre, darüber sind sich inzwischen viele Geister einig, ein grundlegender Bewusstseinswandel. Habsucht, Ausbeutung, Rücksichtslosigkeit, vorwiegend oder sogar ausschließlich auf schnelle Kapitalverwertung und Gewinnmaximierung ausgerichteter wirtschaftlicher „Erfolg“ werden als Ursachen fortschreitender Zerstörung benannt, und die weltweite, unersättliche Konsumgier der sozial gleichgültig gewordenen „Massen“ als mitschuldig und angeblich unverbesserlich ausgemacht. Bei den Versuchen ein „neues Denken“ zu entwickeln, zu verbreiten und zur Grundlage einer dringend notwendigen Überlebensstrategie zu machen, könnte der „Zukunftsforschung“ eine eigene, besonders wichtige Rolle zufallen. Es müsste ihr gelingen, durch überzeugende Beispiele in einer allgemein verständlichen und überzeugenden Sprache klarzumachen, dass die meisten Umweltschäden durch fast ausschließlich gegenwartsorientiertes, nur kurzfristig erfolgreiches Handeln verursacht werden. Großartig erscheinende Projekte von Industrie und Bauwirtschaft erweisen sich, wenn man ihre oft erst in Jahrzehnten deutlich erkennbaren Schadenswirkungen rechtzeitig erkennen würde, als Desaster. Stolze Jahresbilanzen verkehren sich in schreckliche Pleiten, wenn man in späteren Zeiten erkennt, mit wieviel Schulden und Schuld sie im Grunde von Anfang an belastet waren. Es ist denkbar, dass auf Grund dieser Erkenntnis jede Neuerung und jedes Vorhaben auf ihre wahrscheinliche Zukunftstauglichkeit hin geprüft werden. Nicht nur die sofortigen Belastungen und Schädigungen wären zu berücksichtigen, sondern auch die im Grunde viel schwerwiegenderen negativen, vielleicht sogar katastrophalen Folgen, die erst allmählich und oft nur sehr langsam deutlich werden. Wie lange hat es gedauert, ehe die gravierenden Folgen von Umweltverschmutzung und enorm riskanten Veränderungen in der Atmosphäre wahrgenommen wurden! Viele leise kleine, oft fast unmerkbare Warnsignale wurden übersehen und überhört und ihre bedenkliche Anhäufung über viele Dekaden hinweg kaum berücksichtigt. Nicht nur die Mächtigen und Verantwortlichen haben den Faktor „Zeit“ übersehen, sondern auch wir, die Betroffenen, die es versäumten, gegen die vielen kleinen Veränderungen in unserer Umwelt, unserer Nahrung, unserer Arbeitswelt, unserer Zeiteinteilung etwas zu tun. Es schien sich „nicht zu lohnen“, gegen all diese kleinen Verschlechterungen der Lebensqualität anzugehen. Wer auf den Sekunden- und Minutenzeiger nicht schaut – und wer brächte denn das auch fertig? –, den bestraft das Leben, wenn die Stunde schlägt und man plötzlich merkt, wie Nachlässigkeit sich in Verhängnis verwandelt hat. Hier könnte, hier müsste ein Umdenken einsetzen. Zum erhöhten Gewissen sollte erhöhtes Zeitbewusstsein kommen, um den Untergang zu verhindern.