Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert

Ausgabe: 2018 | 3
Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert

Politische Ökonomie im 21. JahrhundertDer Band „Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ versammelt Beiträge bekannter Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik, die das Ziel verfolgen, das Werk von Karl Marx auf ihre Aktualität und ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen. Dieses Vorhaben lohnt sich, das verdeutlicht Herausgeber Mathias Greffrath im ersten Aufsatz des Sammelbandes selbst. Er vertritt u. a. die These, die Marxsche Theorie vermöge ihre LeserInnen von jeglichen „Flusen der Vulgärökonomie“ (S. 26) zu befreien. Fünf weitere Beiträge dieses Buches sollen kurz vorgestellt werden.

Für die meisten KommentatorInnen der Marxschen Analyse kapitalistischer Verhältnisse bildet die Ware und ihr „Doppelcharakter“ von Gebrauchs- und Wertgegenstand den Ausgangspunkt. John Holloway stellt dem entgegen, dass im ersten Satz von „Das Kapital“ nicht nur von Waren, sondern auch vom Reichtum die Rede ist. Für Holloway ist es der Reichtum und sein Spannungsverhältnis zur Ware und ihrer kapitalistischen Produktion, die an den Beginn der Analyse kapitalistischer Verhältnisse gestellt werden sollten. Reichtum – und das deutet Marx bereits im ersten Band an – erschöpft sich nicht in der Warenform. Zum menschlichen Reichtum zählen auch Dinge wie Kreativität, schöpferisches Potential, Solidarität und Liebe. Diese lassen sich nicht unter das Wert- und Warenprinzip subsumieren und bilden – so Holloway – den Ausgangspunkt für eine potentielle Bewegung, die sich früher oder später gegen die totale kapitalistische Vereinnahmung stellen wird.

Hans-Werner Sinn und Sarah Wagenknecht

Hans-Werner Sinn betrachtet Marx u.a. als wichtigen Theoretiker der Makro- und Krisentheorie. Zum einen legte Marx in seinem Werk einige Grundlagen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Wachstumstheorie dar. Zum anderen bereitete Marx durch seine Überlegungen zur Unterkonsumtion und damit einhergehenden Krisen die Theorien von John Maynard Keynes vor. Sinn bringt das Marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ mit der heute aktuellen Theorie der „sekundären Stagnation“ in Verbindung. Beiden ist die Annahme gemeinsam, dass die durchschnittliche Rentabilität insgesamt gefallen und die Wirtschaft dadurch zunehmend ins „Stottern“ geraten ist. Sinn macht für diese Entwicklung die Politik der Zentralbanken verantwortlich, die durch ihre Rettungs- und Zinspolitik die Erneuerungskraft des Kapitalismus zunichtemachen.

Der Beitrag von Sahra Wagenknecht zeichnet einige Tendenzen kapitalistischer Entwicklung nach und versucht diese in die Zukunft zu „extrapolieren“. Ein Beispiel hierfür ist Marx’ Annahme, dass sich das Kapital zunehmend konzentriert. D.h., durch die zunehmende Rationalisierung und den zunehmenden Einsatz von Kapital durch Investitionen in Technologie entstehen immer größere Unternehmen, gegen die andere nicht mehr konkurrenzfähig sind. Tatsächlich ist Wagenknecht der Überzeugung, dass sich diese Entwicklung mehr und mehr bewahrheitet. In vielen Branchen entstehen immer größere und kapitalintensivere Konzerne, die große Marktanteile an sich binden. Daraus folgert Wagenknecht, dass die Wirtschaft immer mehr stagniert, die Konzerne würden aufgrund mangelnder Konkurrenz weniger innovativ und damit „träge“.

David Harvey und Étienne Balibar

David Harvey stellt heraus, dass der Kapitalismus nicht nur in seinem konstituierenden Prozess der Kapitalakkumulation, d.h. der Anhäufung von Wert, sondern auch in den vielen Erscheinungen der Wertvernichtung betrachtet werden muss. Er nennt die ständig drohende Vernichtung von Wert „Anti-Wert“. Für ihn ist Kapitalismus als Wechselspiel von Wert und „Anti-Wert“ zu begreifen; sobald der Prozess, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, ins „Stottern“ gerät oder gar zum Stillstand kommt wird Kapital vernichtet. Letzteres ist jedoch wiederum notwendig um neue Wachstumsschübe zu initiieren. Die Relevanz des „Anti-Werts“ zeigt sich für Harvey auch im Phänomen der Schulden, die u.a. für die Möglichkeit zur Investition und damit für den Akkumulationsprozess unentbehrlich sind, jedoch stets auch auf die Gefahr einer Krise verweisen. Eine kapitalismuskritische Ausrichtung sollte eine „direkte Politik des Anti-Werts“ sein. Damit meint Harvey die aktive und bewusste „Negation des kapitalistischen Wertgesetzes“ (S. 203). Noch bestehende und teilweise neu entstehende nicht- kapitalistische „Inseln“, wie z.B. die in weiten Teilen nach wie vor gemeinschaftlich organisierte Hausarbeit ebenso wie Projekte solidarischer Ökonomie, könnten als Ausgangspunkte einer solchen Politik fungieren.

Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Aufsatz von Étienne Balibar. Er stellt fest, ein zentraler Aspekt des politischen Werks von Marx, und zwar die Idee der revolutionären Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sei nicht der Schluss-punkt des ersten Bandes seines Hauptwerks „Das Kapital“. Stattdessen „verstecke“ Marx die politischen Konsequenzen seiner Überlegungen im „Inneren“ seines Werkes. Diese kämen etwa im vorletzten Kapitel des ersten Bandes weit besser zur Geltung. Balibar interpretiert dieses Detail als ein Indiz dafür, dass Marx selbst sein Werk als „unabgeschlossen“ betrachtete und aus ihm vielerlei Konsequenzen gezogen werden können. Darum setzte er – meint Balibar – das Politische absichtsvoll nicht an das Ende des ersten Bandes. Als Beispiel zieht er die These der „Expropriation der Expropriateure“ heran, die – je nach Textfragment – unterschiedlich, einmal „revolutionär“ und ein anderes Mal „reformistisch“, gelesen werden kann. Das bedeute: Auch wenn Marx als Revolutionär bestimmte politische Strategien vorschlug, so lasse sein geschriebenes Werk dennoch mehrere politische Wege offen. Dominik Gruber

 

Bei Amazon kaufenRE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Mathias Greffrath. München: Kunstmann, 2017. 240 S., € 22,- [D], 22,70 [A] ISBN 978-3-95614-172-0