Es sei aus heutiger Perspektive unmöglich, die Berichte über Piraten-Königreiche zu entwirren und eine definitive Erzählung zu schaffen, die klarstellt, welche Geschichten der Wirklichkeit entsprechen und welche nicht. Gewiss habe es jedoch Piratensiedlungen an der Küste Madagaskars gegeben, und sie waren Orte radikaler gesellschaftlicher Experimente. Piraten hätten experimentiert mit neuen Formen der Regierungsführung und der Eigentumsverhältnisse; und darüber hinaus hätten es ihnen Mitglieder der benachbarten madagassischen Gemeinschaften gleichgetan, in die sie einheirateten. Das weckte das Interesse des mittlerweile verstorbenen David Graeber, der in seinem Buch „Piraten“ herauszuarbeiten versucht, was gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Nordostküste Madagaskars tatsächlich geschah, als sich dort mehrere Tausend Piraten niederließen.
Große Bedeutung weist Graeber den Geschichten zu, die damals und auch später erzählt wurden. Die Piraten hätten sich mit Geschichten von Wagemut, Furcht und Schrecken umgeben. „Man könnte sogar sagen, dass sie sich mit solchen Geschichten wappneten, aber an Bord selbst scheinen die Besatzungen ihre eigenen Angelegenheiten durch Gespräche, Beratungen und Debatten geregelt zu haben. Ansiedlungen wie Sainte Marie und, vor allem, Ambonavola scheinen selbstbewusste Versuche gewesen zu sein, dieses Modell an Land zu reproduzieren, begleitet von abenteuerlichen Geschichten über Piraten-Königreiche, um potenzielle ausländische Freunde und Feinde zu beeindrucken.
Ergänzt wurden diese Geschichten durch die sorgfältige Entwicklung egalitärer Beratungsprozesse in den eigenen Reihen. Aber indem sich die Piraten niederließen, sich mit ehrgeizigen madagassischen Frauen zusammentaten und Familien gründeten, wurden sie in eine völlig andere Konversations-Kultur hineingezogen“ (S. 200).
Politisches Handeln liegt für Graeber dann vor, wenn andere Menschen beeinflusst werden, von denen zumindest einige zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht anwesend sind. Gerade die Geschichten der Piraten an der Nordküste Madagaskars in der Zeit um das Jahr 1700 bestimmten so, dass diese global politische Akteure im umfassenden Sinn waren. Denn mit den Geschichten über sie wurden die Ideen der Freiheit und Demokratie popularisiert.