Veronika Settele

Deutsche Fleischarbeit

Ausgabe: 2023 | 3
Deutsche Fleischarbeit

„Die Kluft ist groß geworden zwischen Menschen, die Tiere bewirtschaften und solchen, die sie konsumieren – oder auch nicht mehr konsumieren“ (S. 196). So lautet der zentrale Befund von Veronika Settele, die als Historikerin an der Universität Bremen arbeitet. Einen Beitrag zu mehr Verständnis zwischen diesen Gruppen zu leisten, ist das erklärte Ziel des Buchs. Dabei soll der Blick in die Geschichte der landwirtschaftlichen Tierhaltung in Deutschland helfen.

Geschichte der Massentierhaltung

Im ersten Teil des Buches zeichnet die Autorin Entwicklungen vor 1945 nach, eine Zeit, in der Tiere zwar überall im Alltag zu sehen waren, Fleisch in Städten aber nur wenigen oder selten zugänglich war. Die Weichen Richtung Massentierhaltung wurden schon ab 1870 gestellt. Einerseits begannen immer mehr Agrarexpert:innen sich mit Fragen der Tierhaltung zu beschäftigen, andererseits verstärkte sich der staatliche Zugriff auf die Landwirtschaft zusehends, um eine ausreichende Versorgung zu garantieren.

Der zweite Teil des Buches beschreibt in drei Kapiteln die zwischen 1945 und 1990 stattgefundene „Revolution im Stall“ entlang von drei verschiedenen Dimensionen: den Körpern der Tiere, der Übernahme betriebswirtschaftlichen Denkens und der Technisierung der Tierhaltung. Jede dieser Dimensionen wird anhand eines Tiers dargestellt.

Im ersten dieser Kapitel geht es um die Anpassung des Rinder-Körpers an die neuen Ansprüche Richtung mehr Fleisch. Neben der dem US-Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg folgenden Trennung von Fleisch- und Milchproduktion kamen drei „neue Körpertechniken“ (S. 93) zum Einsatz. Durch künstliche Besamung wurde es möglich, einerseits Rinder heranzuzüchten, „auf denen die dicken Steaks wachsen“ (S. 64) und andererseits solche, deren Körper optimal für maschinelles Melken geeignet waren. In vielen Fällen wurden die eigenen Futterflächen durch zugekauftes Kraftfutter ausgeweitet (strategische Fütterung). Mit diesen Neuerungen wurde es möglich, so viel und so billig zu produzieren wie nie vorher in der Menschheitsgeschichte.

Auch bei der Geflügelzucht ging es darum, mehr zu produzieren. Dazu wurden – nach ausländischem Beispiel – Zucht und Haltung getrennt und zwischen Eier legenden Hennen und Masthühnern zur Fleischproduktion unterschieden. Weitere Neuerungen gab es bezüglich Hühnerfutter (welches die Notwendigkeit des Auslaufs beendete) und Ställen, welche, um die Eierproduktion anzuregen, „den Hühnern ganzjährig vorgaukelten, es wäre Frühjahr“ (S. 109). Hiermit wurden riesige Hühnerfarmen möglich, und es setzte sich die Käfighaltung in großem Stil durch. Der zunehmende Kostendruck führte dazu, dass betriebswirtschaftliches Denken immer stärker in den Vordergrund rückte. Interessanterweise lief die Entwicklung in den beiden Deutschlands, dem marktwirtschaftlichen Westen und dem planwirtschaftlichen Osten, mehr oder weniger gleich: es ging darum, mit möglichst wenig Input pro Tier möglichst viel Eier oder Hähnchenfleisch zu produzieren. „Richtig oder falsch war in der Tierhaltung zu einer Frage der Zahlen geworden“ (S. 117).

Schweine sind die weltweit wichtigsten Fleischlieferanten. An ihnen zeigt Settele, wie die Technik Einzug in die Tierhaltung hielt. Zwischen 1960 und 1990 wurden die zwei Hauptaufgaben im Saustall, die Versorgung der Schweine mit Futter und das Wegbringen des Mistes, automatisiert:  Futterautomaten und Spaltenböden wurden zur neuen Realität. Dadurch veränderte sich auch die Rolle des Menschen im Stall fundamental. „Nicht länger waren Krankheit und Arbeitsunfähigkeit der Menschen das Schreckgespenst der Schweinehaltung, sondern Defekte und Störungen der Stalltechnik“ (S. 152). Mit den nun möglich gewordenen Schweinemastanlagen, mit zum Teil Zehntausenden von Schweinen, entstanden neue Herausforderungen, wie Kannibalismus unter den Tieren, starke Geruchsbelästigung oder Übermengen an Gülle.

Die Massentierhaltung geriet immer häufiger in Kritik, wovon der dritte, abschließende Teil des Buches handelt. Neben dem Ansatzpunkt „Tierwohl“ geht es auch um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sowie um ökologische Überlegungen. Möglicherweise gehen diese Konflikte um die Massentierhaltung ihrem Ende entgegen. Neben dem rasch größer werdenden Angebot an veganen Fleischimitaten liegen Hoffnungen auch auf virtuellem Fleisch aus dem 3D-Drucker, an dem an vielen Orten geforscht wird. So abwegig Letzteres manchen auch erscheinen mag, so erscheint „aus historischer Perspektive […] Laborfleisch als schlüssige Fortsetzung der Geschichte. Auch der Massenstall war schon eine Fleischfabrik“ (S. 208).

„Revolution im Stall“

Wer sich mit der Geschichte der Massentierhaltung in Deutschland befassen möchte, findet hier eine sehr detailreiche und auch für nicht landwirtschaftlich Vorgebildete durchaus interessante Darstellung der nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefundenen „Revolution im Stall“.