Rutger Bregman

Utopien für Realisten

Ausgabe: 2019 | 3
Utopien für Realisten

Rutger Bregman setzt bei Errungenschaften der Moderne an, was in den Wohlstandsländern an einem hohen BIP und an Indikatoren wie einer stark gestiegenen Lebenserwartung, dem drastischen Rückgang der Gewalt oder Alterseinkommen ohne Arbeit abzulesen sei. Die mittelalterliche Utopie eines Lebens in Fülle sei für immer mehr Menschen in Erfüllung gegangen. Doch dürften wir dabei nicht stehen bleiben, denn wir blieben unter dem, was möglich ist, weit zurück: „Warum arbeiten wir heute härter als in den achtziger Jahren, obwohl wir reicher sind als je zuvor? Warum leben immer noch Millionen Menschen in Armut, obwohl wir reich genug sind, um der Armut ein für alle Mal ein Ende zu machen?“ (S. 21)

Der Journalist, im Klappentext des Buches als „einer der prominentesten jungen Intellektuellen Europas“ bezeichnet, fordert größere Sprünge. Er kritisiert die zaghafte Politik, die sich gegen grundlegende Veränderungen wehre. Krisen bedeuten Weggabelungen, die zu Neuem führen. Wir befänden uns jedoch in einer Art „Koma“, einem „tiefen, traumlosen Schlaf“ (S. 241), unfähig neue Utopien zu denken und eine offene Welt zu wagen. Die Zukunft sei bereits da, nur sehr ungleichmäßig verteilt, so eine Anspielung auf die globalen Ungerechtigkeiten. Nicht mehr die Klassenzugehörigkeit, sondern der Ort, an dem man geboren wird, entscheide heute über das Schicksal eines Menschen.

15-Stunden-Woche, offene Grenzen, bedingungslose Grundeinkommen

Bregman hat insbesondere drei große, im Untertitel des Buches angeführte Zukunftsutopien im Blick, die er aber für durchaus real hält: eine 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und ein universelles Grundeinkommen. Man müsse mehr fordern, um die Geschichte voranzubringen, meint der Autor. Hier versage die heutige Sozialdemokratie, die viel zu vorsichtig agiere. Bregman spricht von „Underdog-Sozialisten“ (S. 257). Wie der deutsche Pop-Philosoph Richard David Precht geht Bregman davon aus, dass die Digitalisierung weitere Arbeitsplätze kosten werde. Er kritisiert aber auch die vielen gut bezahlten, sinnlosen Jobs etwa im Management von Konzernen. „Je mehr Wohlstand an der Spitze konzentriert ist, desto größer wird die Nachfrage nach Firmenanwälten, Lobbyisten und Hochfrequenztradern.“ (S. 165) Der Wohlfahrtsstaat bekämpfe nur mehr Symptome, nicht „die Ursachen unserer Unzufriedenheit“ (S. 24). Die „globale Apartheit“ (S. 218) werde nicht durch die Brosamen von Entwicklungshilfe gelindert, sondern durch die Möglichkeit, sich Wohlstand zu schaffen. Dies erfordere die Abkehr von der Abschottung der Wohlstandsländer: „In der Ära der Globalisierung leben nur drei Prozent der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslandes.“ (S. 213)

Würden alle entwickelten Länder nur drei Prozent mehr Einwanderer aufnehmen, so hätten die Armen der Welt 305 Milliarden Dollar mehr zur Verfügung, was mehr als dem Doppelten der gegenwärtigen Entwicklungshilfe entspricht, zitiert Bregman eine Weltbankstudie (S. 228). Sein Versprechen: „Offene Grenzen würden die ganze Welt doppelt so reich machen, wie sie heute ist.“ (S. 212)

Bleibt das universelle Grundeinkommen. Dieses würde nicht nur den materiellen Reichtum fairer verteilen, sondern auch neue Potenziale für Entwicklung freilegen. Bregman bezieht sich hier auf vergleichende Studien, die zeigen würden, dass direkte Zuwendungen an Arme diesen am besten helfen, deren Lebenssituation zu verbessern. Eltern würden Kinder in die Schule schicken, wenn sie dort Essen bekommen, nicht Schulbücher. Das Grundeinkommen – so ein zitiertes Projekt aus Namibia der britischen NGO „GiveDirectly“ – ermögliche es Menschen, sich eine eigene Existenz aufzubauen. In den Wohlstandsländern würde, so Bregman, das Grundeinkommen dazu beitragen, Ausgrenzung zu überwinden („Das Hauptproblem eines Obdachlosen ist, dass er kein Dach über dem Kopf hat.“, S. 78) und die vielen sinnlosen Arbeiten abzustellen, die derzeit verrichtet werden, nur um Arbeitslosigkeit gering zu halten. „Solange wir von Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit besessen sind, obwohl nützliche Tätigkeiten weiter automatisiert oder fremdbeschafft werden, wird die Zahl der überflüssigen Jobs nur weiterwachsen.“ (S. 164)

Wer mehr fordert, hat größere Chancen

Wie realistisch sind Bregmans „reale“ Utopien? Eine Ökonomie, in der die Geldeinkommen die Arbeitseinkommen immer mehr übersteigen und in der die Umweltzerstörung rasant voranschreitet – worauf der Autor interessanterweise nur am Rande eingeht –, erfordert neue Weichenstellungen. In diesem Sinne befruchten die hier mit Eloquenz und Optimismus dargelegten Vorschläge die Debatte um einen grundsätzlichen Kurswechsel. Wenn auch manches flapsig daherkommt, etwa der Blutzoll ausgespart wird, auf dem der Kapitalismus errichtet wurde, und unklar bleibt, wie etwa ein universelles Grundeinkommen finanziert werden soll: Wer mehr fordert, hat größere Chancen, dass das Unmögliche irgendwann möglich wird.