Nach Tschernobyl. Regiert wieder das Vergessen?

Ausgabe: 1990 | 1

Nach dem 26.4.1986 hat sich das Leben verändert. Damals ging ein Aufschrei der Entrüstung durch die Bevölkerung. Vielerorts wurden die Möglichkeiten des Ausstiegs aus der Atomenergie diskutiert bzw. in Aussicht gestellt Drei Jahre danach stellt sich die Frage, ob wieder das Vergessen reagiert - wie nach Hiroshima und Nagasaki. Kurz nach der Katastrophe in Tschernobyl haben Autoren in der Zeitschrift "psychosozial" zum gleichen Thema Stellung bezogen. "Die Einsicht, dass es not tut, auf Katastrophen (. ..) nicht nur mit kurzfristiger Betroffenheit, sondern mit einem dauerhaften ,Mut zur Angst' und einem beharrlichen Kampf gegen die möglichen Wiederholungen zu reagieren, führte zu dem Entschluss, die gleichen Autoren nochmals um eine Stellungnahme aus dem Größeren zeitlichen Abstand zu bitten." Anliegen des Bandes ist es, "Tschernobyl im Gedächtnis zu halten und die psychosozialen Abwehrprozesse zu untersuchen, die dem Vergessen Vorschub leisten". Horst E. Richter sieht unsere Technik des Vergessens darin begründet, "dass wir uns dem wissenschaftlich-technischen Expansionismus in einer Art Heilsglauben verschrieben haben". Er betont die Einsicht in den Zusammenhang von Leidensfähigkeit und Heilungswillen. Gefordert ist ein neues Denken und Fühlen und der Mut, "dafür auch persönlich entschlossen einzustehen". Der Herausgeber behandelt die heftige Reaktion der Deutschen auf den GAU im Vergleich zu anderen Ländern. Und M. Clemenz entwirft im Gegensatz zur umfangreichen Betroffenheitsliteratur sozialpsychologische Thesen zu den Auswirkungen der Atomenergie. N. Spangenberg sieht in der Thematik den Ausbruch moderner Glaubenskriege. Für den einen ist Wackersdorf nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik, für die anderen ist es der Anfang vom Ende. Weitere interessante Aufsätze zur Spaltbarkeit unseres Bewusstseins von Th. Bauriedl, G. Anders Thesensammlung zu Tschernobyl (1986). über das Dilemma des Zauberlehrlings von T. Bastian und M. Hilgers sowie über Zukunftshoffnungen und Ängste von Kindern und Jugendlichen fügen sich nahtlos in diese wichtige Sammlung zum Katastrophenlernen. 

Nach Tschernobyl. Regiert wieder das Vergessen? Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.). Frankfurt: Fischer, 1989. 249S., DM 14,80/sFr 12,59/öS 115,40