Nach 300 Jahren Fortschritt retour ins Mittelalter?

Ausgabe: 1994 | 4

Nach 300 Jahren Glauben an den zivilisatorischen Fortschritt, der unfehlbar zu einer gerechteren Gesellschaft und einer Weltordnung im Gleichgewicht führen werde, sehen wir uns nach dem Erdbeben, das der Sturz des Kommunismus ausgelöst hat mit einer Welt konfrontiert, die sich unseren an den Metaerzählungen der Moderne geschulten Denk- und Handlungsschemata entzieht. Wir erleben den Rückfall in ein neues Mittelalter, das in vielen seiner Charakteristika dem ersten Mittelalter entspricht.

Staatliche Ordnungsstrukturen zerfallen, neue soziopolitische Gebilde, an Ethnizität und Stammeswesen orientiert treten an die Stelle des Nationalstaatenmodells der Moderne, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit drohen zu zerbröckeln und durch das Faustrecht ersetzt zu werden, auf nationaler und internationaler Ebene, im politischen, ökonomischen und sozialen Bereich.

Ausgehend vom Osten Europas breitet sich ein Markt ohne rechtliche Regelungen aus, der zum Aktionsfeld einer neuen sozialen Gruppe, der "Mafia Incorporated", wird, die wie ein Nervensystem sämtliche Bereiche der Gesellschaft durchzieht. Mitten in den entwickelten westlichen Demokratien entstehen gesellschaftliche Gruppen, die sich der Rechtsstaatlichkeit entziehen und analog den Räuberbanden des Mittelalters nach dem Recht des Stärkeren agieren. Von der polnisch-litauischen Grenze bis zu den äußeren Grenzen der moslemischen ehemaligen Sowjetrepubliken zieht sich eine Linie von Krisenherden, deren jeder eine unvorhersehbare Kettenreaktion auslösen und zu einer globalen Katastrophe führen kann. Internationale Steuerungsmechanismen zur Bewältigung derartiger Krisen fehlen.

Auch auf intellektueller Ebene erleben wir das Ende der Moderne. Der Kommunismus, der die Vernunft bis zum Wahnsinn steigern wollte, reißt sie jetzt mit sich. Nicht nur ein versteinertes System ist zusammengebrochen, sondern auch die Idee, dass Gesellschaften im Namen einer Hoffnung Fortschritte erzielen können. Mit ihm versinken die politische Ökonomie von Marx, eine der besten Theorien der Marktwirtschaft, und das sozialistische Gedankengut. Eine kollektive Hoffnung ist zusammengebrochen.

Neue politische Handlungsweisen sind nötig. Es geht nicht mehr darum, am Fortschritt zu arbeiten, sondern die Stabilität der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Darin liegt das Paradoxon der Politik in der postkommunistischen Welt: Eine komplexe und unregierbare Welt verlangt nach einem entschiedenen politischen Führungswillen, der jedoch seiner Grundlage, der ideologischen Untermauerung, depriviert ist. Anstelle des Fortschritts bildet das Unvorhersehbare den Hintergrund politischen Handelns. Dieses gilt es einzubeziehen in eine qualitativ andere, präventive und nicht reaktive Politik, die in Gedanken mögliche Krisen und mögliche Steuerungsmechanismen vorwegnimmt, um im Krisenfall rasch handeln zu können. Anstelle des Abwartens, des fatalistischen Optimismus, die während des Kalten Kriegs das politische Handeln bestimmt haben, muss ein aktiver Pessimismus treten, der sich der Gefahren bewusst ist und vorausdenkt, vorwegnimmt, ein politisches Denken "frei von jedem Messianismus und ohne jede Sehnsucht nach einem irdischen Paradies".

A.-S. P

Minc, Alain: Das neue Mittelalter. Hamburg: Hoffmann und Campe, 7994.2705., DM 38,- / sFr 35,/ ÖS 297,-