Das Ende von Nationalstaaten und Demokratie

Ausgabe: 1994 | 4

Ist die Geschichte eine Abfolge von Paradoxien? Es mag so scheinen, zumindest wenn man den stichhaltigen Argumenten des Autors zu folgen bereit ist. In einer Zeit, da Imperien zerbrechen und neue Nationen auf den Plan treten, verkündet der in Paris lehrende Professor für politische Wissenschaften just das Ende der klar umgrenzten, nationalen Staatengebilde. Nicht mehr gesetztes Recht - und damit auch die Rechtsform der Demokratie, sondern spontan partizipatives Handeln in globalem Kontext bestimme, so die zentrale These Guehennos den Übergang ins nächste Jahrtausend.

"Es wird uns bewusst werden, dass wir, die Erben der Aufklärung, an Gedächtnisverlust leiden: Die Gesetze sind zu Rezepten geworden, das Recht zur Methode, die Nationalstaaten zum juristischen Raum." An ihre Stelle trete das "imperiale Zeitalter", eine Welt, "die gleichzeitig geeint und ohne Zentrum ist". Den Kampf zwischen Nation und Imperium arbeitet Guehenno exemplarisch anhand des Gegensatzes zwischen den USA und Japan heraus: Während sich dort die Idee des Gemeinwohls in der zunehmend brutalen Durchsetzung von Einzelinteressen verliert, ist die asiatische Logik der kleinen Schritte von Vorsicht, Mäßigung und Diffusion der Macht bestimmt. So dauert die Entscheidungsfindung zwar länger, doch ist die Umsetzung bei weitem schneller. An die Stelle der Pyramide tritt, um ein anderes Bild zu gebrauchen, das offene System der Netze, das zugleich die" Entgrenzung" der Welt symbolisiert.

Auch wenn der Auffassung Guehennos. wonach an die Stelle großer Konflikte in Zukunft eine Vielzahl kleiner Anpassungsmaßnahmen treten, Gewalt mithin diffuser, aber weniger extrem werde, viel Positives abzugewinnen ist, so ist seine Vision nicht ohne Trübung: Es mag zwar sein, dass wir die Idee der Freiheit als Grundprinzip der Gesellschaft nach und nach aufgeben. Aber die Aussicht darauf, dass designgeprägter Konformismus und universal praktizierte Korruption sich im Schlagschatten wachsender Sicherheitsapparate entwickeln, gibt hinreichend Anlass zur Sorge. Und so spricht vieles dafür, mit dem kostbaren Gut Demokratie sorgsam umzugehen.

W Sp.

Guéhenno, Jean-Marie: Das Ende der Demokratie. München (u. e.): Artemis & Winkler, 7994. 7795., DM 36,- / sFr 33,70/ öS 287,-