Zukunft als Auftrag der Politik

Ausgabe: 1994 | 2
Zukunft als Auftrag der Politik

Editorial 2/1994

Auf den ersten Blick hin ist es ganz einfach: Politik müsste ja geradezu definiert werden als Beeinflussung der Zukunft - Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik, Sozialpolitik bedeuten ja nichts anderes, als Weichenstellungen in die Zukunft vorzunehmen. Auf den zweiten Blick hin sind aber die kurzfristigen zeitlichen Vorgaben ebenso bekannt: So wie jedes Unternehmen gezwungen ist, seine Bilanz des jeweiligen Geschäftsjahres im Auge zu behalten, sind die in einem Land verantwortlichen Politiker auf vierjährige (bestenfalls fünfjährige) Wahlperioden fixiert, an deren Ende sie wiedergewählt werden wollen. Einschneidende Maßnahmen zur Sicherung der Pensionen von übermorgen, eine fühlbare CO2-Abgabe, die den stark umweltbelastenden Straßenverkehr wirksam senkt, eine hohe Sondersteuer zur Sanierung der "Altlasten" können daher kaum in engere Erwägung gezogen werden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich in mehrfacher Richtung dar: Innerstaatlich könnten Maßnahmen, die den Steuerzahler empfindlich treffen, von einer Mehrzahl von verantwortlichen Parteien gemeinsam vereinbart und etwa analog unseren Schulgesetzen - mit Verfassungsrang beschlossen werden, damit keine Gruppierung mit einfacher parlamentarischer Mehrheit in Versuchung kommt, diese abzuändern. Gegen diesen Weg spricht, dass Oppositionsparteien nur darauf lauern würden, sich durch eine Verteufelung dieses "unverschämten und gänzlich unnötigen Anschlages auf die Taschen des Steuerzahlers" in Szene zu setzen ("Autofahrer = Melkkuh der Nation"). Gleichzeitig würden Wirtschaftstreibende diese einseitige Verringerung der heimischen Wettbewerbsfähigkeit vehement ablehnen. Damit bieten sich auf einer zweiten Ebene entsprechende supranationale Vereinbarungen an. Vor diesem Hintergrund ist auch die erbittert geführte Debatte der letzten Monate zu verstehen, ob innerhalb der erweiterten Europäischen Union jeweils 23 oder 27 Stimmen ausreichen sollen, um Beschlüsse zu verhindern. Konkret: Die gemeinsame Einführung der Katalysatorpflicht ist am Fehlen einer einzigen Stimme gescheitert, und die Erarbeitung einer CO2-Richtlinie ist durch Englands Veto erst gar nicht zustande gekommen. Um wirklich wirksam zu werden, müsste in der Umweltgesetzgebung der EU einerseits vom (bisher noch immer gegebenen) Einstimmigkeitsprinzip auf Mehrstimmigkeit übergegangen werden, und ist eigentlich auch eine Sperrminorität von 27 Stimmen zu niedrig, oder, umgekehrt ausgedrückt. eine erforderliche Mehrheit von 71 % der Stimmen immer noch zu hoch. In eine andere Richtung gehen alle Vorschläge, die Verantwortung für längerfristige Weichenstellungen aus dem politischen Bereich (teilweise) herauszulösen. Hier bietet sich ein breites Spektrum an, von institutionalisierter Politikberatung (OTA in den USA. Scientific Council for Government Policy in den Niederlanden) über den "Wiedenfelser Entwurf" bis hin zu "Science Courts", vergleichbar obersten Gerichtshöfen. Aber: Quis custodiat custodes? Und bleibt nicht dann der demokratische Grundsatz auf der Strecke, dass alles Recht vom Volk auszugehen hat. wenn die grundlegenden Entscheidungen nicht von gewählten Volksvertretern, sondern von "unabhängigen" (und unabwählbaren) Richtern gefällt werden? Und wo sind diese reinen, engelgleichen Wesen, die besser als alle anderen wissen, welcher Weg in die Zukunft richtig ist? So absurd Platos Plan klingen mag, den idealen Staat dadurch zu verwirklichen, dass eine kleine Zahl allweiser Alter eine Generation heranzieht, in der keiner älter als 10 Jahre alt sein darf, zeigt er doch nur den eingebauten Widerspruch auf. Der einzig realistische Ausweg kann wohl nur dadurch gefunden werden, alle diese Wege gleichzeitig zu versuchen, den jeweiligen nationalen und supranationalen Gegebenheiten entsprechend, und "Politikberatung" immer stärker einzuführen und zu institutionalisieren, um durch ein verbessertes Zusammenspiel zwischen langfristig vorausschauender Wissenschaft und demokratisch legitimierter Politik, aber auch unter ständiger Einbeziehung des Wählers, langfristige Zielsetzungen besser in den demokratischen Entscheidungsprozess einzubauen. Gerhart Bruckmann